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IZ-Reiseblog: Kafkas Metamorphosen in Berlin

kafka
Foto: A. Rieger

Was ist „kafkaesk“? Zweifellos werden, allgemein gesprochen, Erfahrungen der Desorientierung, der Ausgrenzung und die Begegnung mit sinnentleerten Ordnungen beschrieben.

(iz). Bereits letztes Jahr erschien in der „Islamischen Zeitung“ ein Artikel über die Frage: Warum fasziniert Franz Kafka bis heute? Die Aktualität dieses Schriftstellers, der ein Meister der Beschreibung von Stimmungen der Moderne war, steht auch im Mittelpunkt einer sehenswerten Ausstellung (Access Kafka) im jüdischen Museum in Berlin.

Das Thema wird für den Besucher im Begleitmaterial konkretisiert: „Als Jurist und Beamter verbindet Kafka Fragen über das Gesetz mit der Kunst: Ihn beschäftigt das sinnentleerte Regelwerk der Bürokratie, die anonyme Fremdbestimmung der Gewalten, das Eindringen in die Privatsphäre und die Unzugänglichkeit der Macht.“

Warum benutzen wir das Adjektiv „kafkaesk“?

Während ich durch die thematisch gegliederten Räume wandere, fällt mir immer wieder das Adjektiv „kafkaesk“ ein, das sich tief in unseren Sprachgebrauch eingegraben hat. Was ist damit gemeint?

Zweifellos werden, allgemein gesprochen, Erfahrungen der Desorientierung, der Ausgrenzung und die Begegnung mit sinnentleerten Ordnungen beschrieben. Wir erleben Prozesse, die scheinbar auf Grundlage von Gesetzen vollzogen werden, deren Inhalt aber unbekannt oder unbestimmt sind und nicht unmittelbar sinnvoll erscheinen.

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Es sind oft Minderheiten, die derartige Phänomene früh registrieren. In der muslimischen Erfahrungswelt, um nur ein Beispiel zu nennen, werden Situationen als „kafkaesk“ erfahren, wenn wir im Ergebnis politischer Beurteilung immer verdächtig sind, weil Definitionen wie „islamistisch“, „legalistisch“ und „fremd“ unbestimmt bleiben und uns diejenigen schnell treffen, die in der Öffentlichkeit auffallen.

Oder wir erleben, dass x-beliebige, von Muslimen begangenen Straftaten als Ausdruck der Religion an sich gelten. Sie geraten in das kollektive Bewusstsein und wir rechtfertigen uns im Prozess dieser Logik permanent.

Foto: Mondadori Portfolio | Wikimedia Commons | Lizenz: gemeinfrei

Kafka hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Religion

Kafka selbst hatte – wie die Ausstellung zeigt – ein ambivalentes Verhältnis zur Religion. Er stammte aus einer assimilierten, liberal-jüdischen Familie, beschreibt in seinen Büchern nicht explizit das Judentum, lernt Hebräisch und informiert sich über die Idee des Zionismus.

Mit dem Trend der „Identitätspolitik“ unserer Zeit könnte er wenig anfangen. In seinem Tagebuch fragt er: „Was habe ich mit Juden gemeinsam?“ Und erwidert sogleich: „Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam!“ Sein eigenes Selbst ist niemals fassbar, in einer permanenten Veränderung und das Ende seiner Entwicklung bleibt stets offen.

Drastisch verläuft die Idee der Metamorphose in der „Verwandlung“, eines seiner berühmtesten Bücher. Die Geschichte handelt von Gregor Samsa und dessen plötzlicher Umgestaltung in ein „Ungeziefer“. Dieser Begriff ist für deutsche Bildungsbürger, die ihren Goethe kennen, als Naturprinzip positiv besetzt.

Kafka dagegen zeigt die Dramatik fehlgeleiteter Verwandlungen – seien sie auf persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene. Wieder ist die Aktualität des Schriftstellers greifbar: Wie verändert der Populismus in den sozialen Medien unser Bewusstsein? Warum sind differenzierende Positionen – gerade im Umgang mit Minderheiten – heute derart unpopulär?

In diesem Sinne durch den Ausstellungsbesuch gestimmt, steige ich eine die Treppe hinunter zur Dauerausstellung des Museums. Im Untergeschoss des Libeskind-Baus kreuzen sich drei Achsen, die symbolisch für die unterschiedliche Entwicklung jüdischer Lebensgeschichten in Deutschland stehen: die des Exils, eine des Holocaust und die der Kontinuität.

Foto: Jens Ziehe | Copyright: Jüdisches Museum Berlin

Die Auseinandersetzung mit dieser Konstellation geschichtlicher Erfahrung hat uns Deutsche geprägt; egal, ob wir Muslime sind oder nicht. Warum dies so ist, zeigt die Kontinuitätsachse des Museums. Hier lässt sich der traurige Gang der Historie studieren. Sprachlichen Verfehlungen und Gerüchten folgen kollektive Zuschreibungen gegenüber den Juden. Der Horror der Verfolgung bricht schleichend in den Alltag ein und endet im industriell organisierten und bürokratisch verwalteten Massenmord.

Die Achse des Holocaust endet im Voided Void (entleerte Leere), auch Holocaust-Turm genannt. Er erinnert an das Geschehen, das Hannah Arendt mit dem schlichten Satz zusammenfasste: „Es hätte niemals passieren dürfen!“

Es ist hier still, kalt, dunkel, die Atmosphäre wirkt beklemmend. Tageslicht dringt ausschließlich durch einen schmalen Schlitz an der Decke des Betonschachts. Beim Verlassen dieses Ortes denke ich darüber nach, mit welchen Hoffnungen die BesucherInnen wohl das Licht in der Dunkelheit verbinden: Ist es ein Gott? Das Völkerrecht? Die Vernunft- und Lernfähigkeit des Menschen?

Foto: Tobias Arhelger, Shutterstock

Nachklang der „Kontinuität“

Am Anschluss meiner Reise in die dunklen Abgründe der Geschichte klingt die Idee der „Kontinuität“ nach. Wie geht es weiter? Wir erleben heute hitzige Debatten über die Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern und die Reaktion auf den Terrorismus der Hamas im Konkreten.

Ist das geflügelte Wort der deutschen Staatsräson – im Angesicht geschichtlicher Verantwortung – gar selbst „kafkaesk“, weil hier eine gesetzlich nicht fassbare Wortschöpfung einen Geltungsanspruch beansprucht?

Verständlich ist, dass der Begriff eine klare Haltung postuliert, die sich innenpolitisch dazu verpflichtet, religiöses Leben in Deutschland abzusichern und gegen Angriffe, von wem auch immer – zu verteidigen. Die Klage darüber, dass jüdische MitbürgerInnen sich auf deutschen Straßen nicht mehr frei bewegen, ist nicht nur ein Warnsignal, sondern umschreibt eine beschämende Realität.

Die Überzeugung dagegen, dass die Normen und das Maß des internationalen Völkerrechts für alle Parteien gelten, ist eine andere Lehre aus der Geschichte und ein Maßstab für die Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik.

Wem nach dem richtigen und angemessenen Tonfall in diesen Auseinandersetzungen gelegen ist, sei ein Besuch der Ausstellung in Berlin empfohlen.