Die Schriften von Franz Kafka faszinieren bis heute – warum eigentlich?
(iz). Der Begriff „kafkaesk“ ist mit dem Werk des Schriftstellers Franz Kafka verbunden und wird oft verwendet, um eine surreale, beklemmende oder absurde Situation zu beschreiben, die durch eine unerklärliche Komplexität, eine undurchdringliche Bürokratie oder eine scheinbar sinnlose Existenz geprägt ist.
Seine Werke, wie „Die Verwandlung“, „Der Prozess“ oder „Das Schloss“ gehören zur Weltliteratur und sind berühmt für seine rätselhafte Darstellungen von menschlichen Ausnahmesituationen. Die „makellose Prosa“, wie Rüdiger Safranski in seiner neuen Biografie schreibt, spiegelt die Abgründe des 20. Jahrhunderts und damit „die Metaphysik im Augenblick ihres Verschwindens“.
Frank Kafka oder der endlose Prozess
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“. Mit diesem Satz beginnt „Der Prozess“, ein Roman, der von Kafka posthum veröffentlicht wurde und zu seinen bekanntesten Werken zählt. Es handelt sich um eine komplexe Erzählung über einen Mann, der ohne ersichtlichen Grund verhaftet und vor Gericht gestellt wird.
Im Verlauf der Handlung wird er mit einem undurchdringlichen System von Gerichtsverfahren und Bürokratie konfrontiert. Ein Beamter teilt ihm zunächst nur lapidar mit: „Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muss uns Wächter ausschicken.“
Das Labyrinth, in das der Protagonist eintritt, hat tatsächlich wenig mit einem Rechtsstaat zu tun. Die namenlosen Richter und Staatsanwälte verstecken sich auf Dachböden, verhandeln in Hinterzimmern und vernünftiger anwaltlicher Rat ist ebenso wenig zu bekommen. So schafft die Geschichte eine Stimmung, die zwischen Albtraum und Realsatire angesiedelt ist und existentielle Fragen rund um die Schuld, das Gesetz und die Ordnung aufwirft.
Warum Franz Kafka bis heute in seinen Bann zieht, ergibt sich aus den zahlreichen Berührungspunkten mit modernen Themen: die Natur der Autorität, die Machtlosigkeit des Einzelnen, die Suche nach Sinn und Identität sowie die Vergeblichkeit menschlicher Bemühungen, die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal zu erlangen.
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Kafka beschäftigt Philosophen, Psychoanalytiker und Theologen
Derartige Aspekte des Verhältnisses von Bürgern und Obrigkeit erinnern uns heute an die Debatten im Kontext der Pandemie, die Diskussionen über Bürgerrechte oder an die alltäglichen Schicksale von rechtlosen Flüchtlingen. Jenseits dieser politischen und rechtlichen Perspektiven beschäftigt Kafka Philosophen, Psychoanalytiker und Theologen.
Zur Genialität des Autors gehört, dass er sich jeder endgültigen Deutung entzieht. Kafka ist ein Rätsel, das immer wieder neu entschlüsselt werden will.
Sah der Schriftsteller, der „Den Prozess“ zwischen 1914-15 geschrieben hat, die Entstehung totalitärer Staaten voraus? Diese Frage beschäftigt die Kommentatoren bis heute. Dafür spricht die unheimliche Atmosphäre des Romans, der die Rechtlosigkeit und das Ausgeliefertsein des Einzelnen gegenüber einem System beschreibt.
Die Eingaben von Josef K. zu seiner Verteidigung werden vom Gericht nicht gelesen. „Man legt sie einfach zu den Akten und weise darauf hin, dass vorläufig die Einvernahme und Beobachtung des Angeklagten wichtiger sei als alles Geschriebene“. Wer denkt hier nicht an Unrechtsstaaten und an Prozesse, die heute Regimekritiker aus unterschiedlichsten Lagern betreffen?
In Frankreich ruft der Intellektuelle Geoffroy de Lagasnerie dazu auf, der Interpretation Kafkas als einen frühen Mahner für den Rechtsstaat, mit Misstrauen zu begegnen. „Indem uns mit der Schilderung einer Welt Angst gemacht wird, in der das Gesetz unsichtbar und unbestimmt ist, weckt sie in uns den Wunsch, in einem Regime zu leben, indem das Gesetz geschrieben, feststehend und öffentlich ist – das heißt, in der Welt zu leben, in der wir bereits leben.“
De Lagasnerie befürchtet, dass wir uns so über die Krisen des Rechts, die zur Moderne und unseren Demokratien gehört, hinwegtäuschen. Wir sind nicht schon gute Demokraten, weil es die anderen nicht sind. Und: Nicht wenige Muslime, an der Schnittstelle von Recht und Politik bzw. Leben und Offenbarung fürchten sich vor der kafkaesken Situation, wegen ihrer Lebenspraxis in der Demokratie permanent unter Verdacht zu geraten.
Vor dem Gesetz
Giorgio Agamben widmet in seinem Buch „Homo Sacer“, das das „nackte Leben“ in der Moderne, aus politisch-theologischer Sicht beschreibt, dem Werk Kafkas einige Seiten. Besonders interessiert den Philosophen die Legende „vor dem Gesetz“, die ein Geistlicher am Ende des Romans dem Angeklagten erzählt. In der Parabel hindert ein Türhüter den Mann vom Lande scheinbar daran, durch die offene Tür des Gesetzes einzutreten. Jahrelang verharrt er gebannt vor der Tür, bis ihm kurz vor seinem Tod mitgeteilt wird, dass diese nur für ihn offen war und sie jetzt verschlossen wird.
Für Agamben offenbart die Legende die reine Form des Gesetzes, die sich gerade an dem Punkt am stärksten erweist, wo es nichts mehr vorschreibt, das heißt reiner Bann ist. Hier zeigt sich die paradoxe Wirkung einer „Geltung ohne Bedeutung“. Man kann an dieser Stelle streiten, ob in dieser typisch-kafkaesken Situation das Leben und das Gesetz in einem Ausnahmezustand einfach ununterscheidbar werden oder aber das alte Recht sich in einem modernen Nihilismus auflöst.
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„Der Prozess“ als Mahnung
Aus theologischer Sicht kann man die Parabel als eine Mahnung lesen, immer nach der Bedeutung des Rechts zu suchen und nicht nur eine kalte Gesetzesreligion zu praktizieren oder zu akzeptieren. Im Islam ergibt sich diese Maxime aus dem Dreiklang von Islam, Iman und Ihsan.
Die unzähligen politischen Interpretationsansätze, die im Umlauf sind, treffen auch auf Kritik. Der Vorwurf liegt darin, dass sich diese Auslegungen zu weit vom Werk des Autors entfernen. Und es stimmt: Die Lage von Josef K. ergibt sich gerade nicht nur aus einem äußeren politischen Zwang oder aus der Faktizität einer Diktatur. In den folgenden Worten des Geistlichen – an den Angeklagten gerichtet – wird dies deutlich: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“
Es ist ein innerer Zustand, ein Schuldgefühl, dass den Prozess auslöst. Biografisch verarbeitet der Autor im Text tiefe Schuldgefühle, die sich aus einer gescheiterten Beziehung mit seiner Verlobten Felice ergaben. Die Beziehung („ich kann nicht mit ihr und nicht ohne sie leben“) endet – aus Sicht des Verzweifelten – in einem Gerichtsverfahren mit den Angehörigen seiner Geliebten.
In seiner Dissertation „Beschreibung einer Form“ widmet sich der Schriftsteller Martin Walser einer textimmanenten Auslegung. Er erinnert daran, dass bei Kafka nicht nur der Erzähler, sondern auch ein zeitlich fixierbarer Punkt aus dem erzählt wird, fehlt. „Da der Vorgang selbst außerhalb jeder bekannten Vergangenheit spielt, gewinnen diese Romane eine Gegenwärtigkeit, die der epischen Dichtung sonst fremd ist.“
Für ihn spielt Kafkas Werk außerhalb jeder bekannten historischen Vergangenheit oder Gegenwart. In diesem Sinne handelt es sich um keinen Roman, der eine politische Entwicklung beschreibt oder voraussieht, sondern um eine Darstellung einer Totalität, die zeitlos gilt. Kafkas Figuren erfahren keinen Fortschritt ihres Charakters, sie drehen sich in ihrer Einsamkeit endlos im Kreis.
Furcht vs. Angst
Ein wichtiger Aspekt zum Verständnis dieser Literatur ist die philosophische Unterscheidung von Furcht und Angst. Es ist keine konkrete Furcht, die die Figuren Kafkas bestimmt, eher beschreibt Kafka die Angst, die das Bewusstwerden ihres eigenen Daseins auslöst. In seinem 1927 erschienenen Werk „Sein und Zeit“ definiert Martin Heidegger diese bedrohliche Stimmung wie folgt: „Das Drohende kann sich (…) nicht aus einer bestimmten Richtung (…) nähern, es ist schon da – und doch nirgends, es ist so nah, dass es beengt und einem den Atem verschlägt – und doch nirgends.“
Der Philosoph fasst die existentielle Situation des Menschen zusammen: „Wenn sich demnach als das Wovor der Angst das Nichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann besagt das: wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-sein selbst.“ Das Gefühl der Unheimlichkeit, in einer modernen Welt, die versucht ohne Metaphysik und letzte Wahrheiten auszukommen, beschäftigt hier den Philosophen und den Schriftsteller.
Warum fasziniert das Werk Franz Kafkas bis heute eine so große Zahl von LeserInnen? Ohne Frage können wir von Kafka ausgehend die Problematik moderner Systeme, die Gefahr drohender Rechtlosigkeit oder die Furcht, die von der Möglichkeit totalitärer Bürokratien ausgeht, besser verstehen. Wir wissen, gerade wenn wir Kafka studieren, dass die Komplexität der Moderne sich einfachen Erklärungsmodellen verschließt.
Übersehen dürfen wir nicht, dass der Schriftsteller keine endgültigen Deutungen anbietet und somit niemals eine endgültige Interpretation seiner Erzählungen möglich ist. Es ist genau diese zweifelnde Ungewissheit, die er seinen Lesern zumuten will. Entscheidend sind in diesem Sinne die philosophischen und theologischen Impulse, die von den Werken Kafkas ausgehen. Hier geht es um etwas Grundsätzliches, Persönliches.
Die Atmosphäre der Not, die den Menschen befällt, wenn er weder an ein metaphysisches Gesetz glaubt noch seine Angst vor den Abgründen seines Daseins überwinden kann, ist dem modernen Menschen wohlbekannt. Zeitlebens beschäftigte sich Kafka mit seinen jüdischen Wurzeln und – wenn auch eher vergeblich – mit der Möglichkeit einer religiösen Sinnstiftung. Für ihn war diese Suche nach einem Trost Lebensinhalt, den er schließlich im Schreiben fand: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“