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Riskanter Kurs. Bringt die Lira-Krise den türkischen Präsidenten in Schwierigkeiten?

Foto: Presicency of the Republic of Turkey

Mit seiner Lira-Politik treibt der türkische Präsident die Landeswährung auf historische Tiefstände. Die Folgen schüren großen Unmut im Land. Könnte das Recep Tayyip Erdogan zum Verhängnis werden? Von Anne Pollmann und Linda Say

Istanbul (dpa). Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan befindet sich seiner Ansicht nach im Krieg: Es gehe um einen „Unabhängigkeitskampf“, und darum, „Angriffe auf die Wirtschaft von Innen und Außen“ abzuwenden, sagt Erdoğan und verteidigt so seine aktuelle Lira-Politik gegen die allgegenwärtige Kritik. Mit seinem hartnäckigen Festhalten an einem niedrigen Leitzins schickt Erdogan die Landeswährung auf immer neue Talfahrten.

Die Krise kommt zu einer Zeit, in der die Regierung Zuspruch vom Wähler bitter nötig hat. Nicht nur die Lira, sondern auch die Zustimmungswerte stecken in einem historischen Tief. Würde nächsten Sonntag gewählt, die Regierung Erdoğans könnte Umfragen zufolge nicht weiterregieren.

Der Hintergrund der Krise: Die türkische Notenbank hat den Leitzins zuletzt mehrmals gesenkt und damit dem Willen des Präsidenten entsprochen. In der Konsequenz stürzte die Lira ab. Am 1. Januar 2021 bekam man für einen Euro etwa neun Lira. Am Mittwoch waren es zwischenzeitlich sogar 15. Erdoğan aber hält weiter an seinem Kurs fest. Erst am Dienstabend sagt er erneut, hohe Zinsen seien der Grund für die hohe Inflation von zuletzt rund 20 Prozent laut offiziellen Zahlen. Erdogan steht damit im Widerspruch zur gängigen Lehre.

Die Preise für Lebensmittel, Wohnraum und vieles mehr steigen derweil in der Türkei stark an. Ein Fleischer auf einem Istanbuler Markt etwa sagte dem Sender Arti TV, Menschen kauften nun vermehrt Knochen, weil Fleisch zu teuer sei. Daraus wird etwa Knochensuppe zubereitet. Ein anderer Verkäufer sagte, Menschen fragten neuerdings, ob sie auch nur ein Viertel Blumenkohl kaufen könnten.

Aus Sicht einiger Politiker der AKP aber sind die hohen Preise offenbar kein Problem: Zülfü Demirbag riet Bürgern, statt zwei Kilo Fleisch monatlich nur ein halbes zu essen. Energieminister Fatih Dönmez empfahl, die Heizungen runterzudrehen, um Geld zu sparen. Ganz scheint der Unmut nicht an der Führung vorbeizugehen; Erdoğan appellierte am Mittwoch an die Bürger: „Wenn ihr Devisen kauft, Preise bestimmt oder einkauft, bewahrt bitte Ruhe und Vernunft.“

„Die politische Führung verhält sich entgegen jeder ökonomischer Theorie, die ich kenne“, sagt Ceyhun Elgin, Ökonom an der Istanbuler Bogazici-Universität. „Sie glauben, mit einer Abwertung der türkischen Lira international wettbewerbsfähiger zu werden und das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Das ist eine sehr riskante Politik, die es so meines Wissens nach noch nicht gegeben hat“, sagt Elgin. Erdogan selbst sagt, mit seinem „neuen Wirtschaftsmodell“ inklusive niedrigem Leitzins Investitionen, Beschäftigung, Produktion und Export ankurbeln zu wollen.

Das politische Kalkül dahinter könnten dem Ökonomen Elgin zufolge vorgezogene Wahlen im nächsten Jahr statt 2023 sein. Die Regierung wolle kurzfristig Wirtschaftswachstum bewirken, um damit die Wähler wieder auf ihre Seite zu ziehen. „Und das verkaufen sie als einen ökonomischen Unabhängigkeitskrieg gegen alle Imperialisten dieser Welt“.

Die Opposition wittert ihre Chance. Die Führer der kemalistischen CHP und der nationalistischen Iyi-Partei etwa forderten Erdoğan auf, zu schweigen, um die weitere Abwertung der Lira zu stoppen. Sie drängen auf Neuwahlen. Einsicht zeigt der nicht. „Ich werde niemals davon abweichen“, sagte der Präsident. „Auch wenn Andersdenkende kommen, Tayyip Erdoğan bleibt auf diesem Standpunkt.“

Basak Taraktas, Professorin an der Bogazici-Universität, forscht zu sozialen Bewegungen. „Wenn Sie mich fragen, wird die jetzig Situation keine große Rebellion bewirken.“ Mit seinen Reden über einen Unabhängigkeitskrieg vereine der Präsident seine Gefolgschaft hinter sich, „obwohl sie unzufrieden sind und sehr stark unter der wirtschaftlichen Lage leiden.“

Die Gegner Erdoğans hingegen seien stark gespalten, das könne die Lira-Krise noch nicht überwinden, sagt Taraktas. Umfragen stützen diese These: Laut dem Institut Metropoll glauben mehr als 64 Prozent, dass die aktuelle Regierung die wirtschaftlichen Probleme nicht lösen kann – 55 Prozent sind aber der Meinung, auch die Opposition vermöge das nicht. Das könne sich immer noch ändern, sagt Taraktas, etwa wenn die Lira weiter massiv an Wert verliere. „Das wäre eine Situation, die auch die Regierung nicht mehr rechtfertigen könnte“. Erdogan hat für Dezember bereits weitere Zinssenkungen angekündigt.