Judaskuss, Königsmorde, Whistleblowing: Verräter machen Geschichte

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Münster (exc) Ob Königsmord, Whistleblowing oder „Volksverräter“-Rufe von Querdenkern: Der Verrat prägt Historikern zufolge die politischen Geschicke seit der Antike bis heute. „Hochverrat gilt in allen Epochen und Staaten als ultimatives politisches Verbrechen und wird drakonisch bestraft“, sagt der Historiker PD Dr. André Johannes Krischer im Vorfeld einer internationalen Tagung zur Geschichte des Verrats am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. „Gemessen daran ist das Phänomen erstaunlich wenig erforscht.“

Die Tagung soll diese Lücke schließen. „Verrat ist vielfältig: Der Judaskuss, der zur Kreuzigung Jesu führt, gilt als heilsnotwendiger Verrat. Der Hochverrat, etwa ein Königsmord, leitet einen gewaltsamen Umsturz ein. Whistleblowing wiederum gilt vielen als guter Verrat im Sinne der Aufklärung.“ Immer geht es um Vertrauensbruch und Loyalitätsverstoß.

„Wir verbinden Verrat oft mit Herrschaftsregimen vergangener Zeiten, doch er wirkt bis in die Moderne: In totalitären Regimen etwa führten Verratsvorwürfe zu massenhaften Justizmorden,“ erläutert Krischer. Heute sei ‚Verrat‘ zum politischen Kampfbegriff geworden. „Verratsvorwürfe tauchen gerade im Rahmen von Verschwörungstheorien auf. Gehetzt wird in sozialen Medien. Das kann zur Gewalt anstacheln und, wie wir inzwischen wissen, für Betroffene tatsächlich gefährlich werden.“ 

Verratsvorwürfen ist auch die Staatsmacht ausgesetzt, wie Krischer ausführt: Pegida-Anhänger oder Querdenker diffamieren Regierende als „Volksverräter“ und knüpfen mit dem Begriff, Unwort des Jahres 2016, an nationalsozialistischen Jargon an. „Populisten beanspruchen genaue Kenntnis eines homogenen Volkswillens. Wer widerspricht, gehört demnach nicht zum Volk und verrät dessen Anliegen. So wird Flüchtlingspolitik zum Verrat an der einheimischen Bevölkerung“, erläutert der Wissenschaftler. Eher aus der bürgerlichen Mitte komme aktuell der Vorwurf, die Regierung habe beim Bundeswehrrückzug aus Afghanistan westliche Werte verraten. „Auch hier zeigt sich die moralische Komponente des Verratsvorwurfs.“

Der Geschichte des Verrats widmet sich ab 23. September eine internationale Online-Tagung, die André Johannes Krischer mit seinem Fachkollegen Prof. Dr. Mark Cornwall von der Universität Southampton unter dem Titel „Treason: A conceptual and comparative history“ (Verrat: Eine konzeptionelle und vergleichende Geschichte) ausrichtet. Historikerinnen und Historiker mit unterschiedlichen disziplinären Ansätzen widmen sich am 23. und 24. September etwa der kulturellen Repräsentation, der rechtlichen Verfolgung sowie den Auswirkungen von Verrat. Das Spektrum reicht von der religiösen Dimension des Verrats im antiken Athen, osmanischer Diplomatie im frühen modernen Istanbul über politische Theorien des Verrats und das Spionagegesetz im Amerika des Kalten Krieges bis zu Schauprozessen in Russland unter Stalin bis Putin. 

In einer neuen Folge des Forschungspodcasts „Religion und Politik“ zum Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ des Exzellenzclusters führt Historiker Krischer in die Thematik ein. Bereits in der griechisch-römischen Antike war Verrat eine Kategorie des Strafrechts. „Er dient als Grund, den politischen Gegner auszuschalten. Denn der Verräter gilt als jemand, dem jedes Mittel recht ist, um sein Ziel durchzusetzen.“ 

Seit dem Mittelalter gilt die biblische Geschichte des Judas als Urverrat. „Theologisch handelt es sich um einen heilsnotwendigen Verrat: Die Kreuzigung ermöglicht erst die Auferstehung und damit die Heilsgeschichte.“ Historisch aber musste Judas als böser Verräter schlechthin oft zur Begründung von Strafen herhalten: „Verräter wurden grausam hingerichtet, in Stücke gerissen oder lebendig verbrannt.“ So erging es den Mördern der französischen Könige Heinrich III. im Jahr 1589 und Heinrich VI. 1610. Sie warfen den Herrschern ein zu laxes Vorgehen gegen die Protestanten und damit Verrat am katholischen Glauben vor. In der Folge wurden die Mörder selbst als Verräter hingerichtet. Krischer: „Das ist ein Beispiel dafür, dass der Verratsvorwurf in derselben Angelegenheit von beiden Seiten erhoben werden kann.“ 

Verratsvorwürfe und Verschwörungstheorien 

Zur Verzahnung von Verrat und Verschwörungstheorien kam es im England des 16. Jahrhunderts: Die Regierung wusste Anschläge auf Königin Elisabeth I. im Keim zu ersticken, indem sie bereits des Verrats verdächtigte Personen hinrichten ließ. „Dies förderte Verschwörungstheorien, was zu Hinrichtungen von Unschuldigen führte.“ 

Die Verflechtung dauert bis in die Moderne an, wie Krischer ausführt. „Verräter agieren im Halbdunkel und verfolgen mit Hilfe mächtiger Unterstützer einen geheimen Plan. Diese Vorstellung herrschte nicht nur in frühneuzeitlichen Konfessionsstaaten, sondern auch in totalitären Regimen der Moderne.“

Ihre tödliche Wucht entfaltete sich im 20. Jahrhundert: „Im Nationalsozialismus und Stalinismus führten Verratsanklagen als Justizinstrument zu Massenhinrichtungen. Verrat richtete sich nun nicht nur gegen einzelne Herrscher, sondern gegen ein übergeordnetes Konzept wie Nation oder Volk.“ In der Bundesrepublik schließlich wurde 1962 aufgrund eines kritischen Artikels zur Rüstungspolitik wegen Landesverrats gegen das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ermittelt. In der Folge der „Spiegel-Affäre“ musste Verteidigungsminister Franz Josef Strauß zurücktreten, der Vorfall stärkte die Pressefreiheit. 

Auch die Wikileaks-Enthüllungen von Julian Assange im Jahr 2010 stehen für einen eher positiven Blick auf Verrat, sagt André Krischer. „Whistleblower wie Assange oder Edward Snowden gelten vielfach als gute Verräter, die sich nach Ansicht mancher für ihre aufklärerischen Aktionen nicht vor Gericht verantworten müssen.“ Heute kennzeichnen Verratsanklagen seitens der Herrschenden dem Historiker zufolge vor allem autokratische Regime: „Sie richten sich meist gegen zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure wie kritische Journalisten. So haben sich in Russland seit 2011 unter Präsident Putin die Verratsklagen verfünffacht.“ (apo/vvm)

Weiterführende Literatur: Krischer André (Hrsg.): Verräter: Geschichte eines Deutungsmusters. Wien/Köln/Weimar 2019.