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Versorgungskrise am Horizont: Auch in Deutschland fehlen Trucker

Foto: Roland Rampsch, Shutterstock

Experten warnen, eine Versorungskrise wie in Großbritannien drohe wegen Lkw-Fahrermangels auch Deutschland und der EU. Grund sind Dumpinglöhne und miserable Arbeitsbedingungen.

BERLIN/LONDON (GFP.com). Eine Versorgungskrise wie aktuell in Großbritannien droht wegen des kontinuierlich zunehmenden Mangels an Lkw-Fahrern auch Deutschland und der EU. Das besagen Einschätzungen von Branchenexperten. Im Vereinigten Königreich waren nach ersten Schwierigkeiten bei der Belieferung von Supermärkten nun am vergangenen Wochenende die Benzinvorräte von wohl zwei Dritteln aller Tankstellen zur Neige gegangen; trotz erster Anzeichen einer Erholung dauert der Mangel an.

Experten weisen darauf hin, dass in der Bundesrepublik fast ebensoviele Lkw-Fahrer fehlen wie in Großbritannien – und es werden mehr. Das ist auch in den Ländern Ost- und Südosteuropas der Fall, die einen beträchtlichen Teil des Lkw-Frachtverkehrs in der EU abdecken. Ursache des Fahrermangels sind – wie in Großbritannien – Dumpinglöhne und miserable Arbeitsbedingungen, mit denen in der EU allgemein meist Arbeitskräfte aus Europas östlicher und südöstlicher Peripherie abgefunden werden. Philippinische Lkw-Fahrer werden mit der Aussage zitiert, sie hätten in Saudi-Arabien bessere Arbeitsbedingungen vorgefunden als in Europa.

Kein Nachschub aus Osteuropa mehr

In Großbritannien führt der Mangel an Lkw-Fahrern, der bereits seit geraumer Zeit für Probleme sorgt, seit dem vergangenen Wochenende zu großen Schwierigkeiten in der Benzinversorgung. Ausfälle bei der Belieferung zunächst nur weniger Tankstellen hatten gegen Ende vergangener Woche eine Welle an Panikkäufen ausgelöst, wodurch rund zwei Dritteln der Tankstellen der Treibstoff ausging und sich vor den anderen extreme Schlangen bildeten. Branchenexperten sagen für die kommenden Tage eine erste Entspannung voraus.

Bestehen bleibt jedoch der Mangel an Lkw-Fahrern, der auf rund 100.000 Personen geschätzt wird und nicht nur die Belieferung von Tankstellen und von Supermärkten, sondern auch der Industrie betrifft. Zum Teil ist er durch die Covid-19-Pandemie bedingt; 2020 konnten aufgrund der Lockdowns 25.000 Lkw-Fahrprüfungen weniger abgelegt werden als 2019.

Die Hauptursache sind allerdings die miserablen Arbeitsbedingungen, die vor allem Jüngere abschrecken; das Durchschnittsalter wird mittlerweile mit 55 Jahren angegeben. Nicht zuletzt wirkt sich auch der Brexit aus: Ende März waren im Vereinigten Königreich gut 16.000 Lkw-Fahrer aus der EU weniger registriert als ein Jahr zuvor. Die bis zum EU-Austritt vorhandene Option, Nachschub aus Ost- und Südosteuropa anzuwerben, entfällt.

„Lkw als Wohnort“

Ein rasch zunehmender Mangel an Lkw-Fahrern besteht auch in Deutschland und anderen Staaten der EU. Für Deutschland berichten Branchenverbände von einer Personallücke, die sich auf 60.000 bis 80.000 Fahrer beläuft. Für Polen ist von bis zu 120.000 die Rede. Zu den Ursachen trägt in der Bundesrepublik laut Berichten in gewissem Umfang die Aussetzung der Wehrpflicht bei: Die Bundeswehr, heißt es, bilde mit 10.000 Lkw-Fahrern im Jahr nur noch halb so viele aus wie zuvor.

Als Haupthindernis beim Anwerben neuer Fahrer gelten allerdings auch in Deutschland die niedrigen Löhne sowie die miserablen Arbeitsbedingungen. So sind Lkw-Fahrer in der Praxis oft mehrere Monate lang von ihren Familien getrennt, müssen zahlreiche Überstunden machen und in ihren Fahrerkabinen übernachten: „Lkw als Wohnort, Autobahnraststätten als Zuhause“, hieß es vor kurzem in einem Bericht.

Hinzu kommen oft starker Pünktlichkeitsdruck, gesetzeswidrige Ausbeutungspraktiken der Speditionen sowie unzulängliche gesetzliche Rahmenbedingungen bei einer gleichzeitig eher rudimentären Durchsetzung geltender Gesetze mittels Kontrollen; überlange Arbeitszeiten etwa werden, wie berichtet wird, immer noch häufig durch gezielte Manipulationen an den Tachometern verschleiert und allzu oft nicht aufgedeckt.

Dumpinglöhne als Kostenvorteil

Möglich ist die Aufrechterhaltung von Dumpinglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen dank der EU. Die Voraussetzungen dafür schafft das kaum veränderte Wohlstandsgefälle in der Union in Verbindung mit dem Binnenmarkt und der Arbeitnehmerfreizügigkeit. So greifen Konzerne aus Deutschland in steigendem Maß auf Dienstleistungen von Lkw-Firmen mit Sitz in Ost- und Südosteuropa zurück, weil dort die Löhne und die Lohnnebenkosten erheblich niedriger sind; auch westeuropäische Speditionen haben Ableger in den östlichen und südöstlichen EU-Mitgliedstaaten gegründet. Eine im Auftrag der EU erstellte Studie beziffert den „Kostenvorteil“ dort ansässiger Fahrer auf „mehr als 170 Prozent“.

Laut der Untersuchung wird der internationale Lkw-Frachtverkehr in der EU – grenzüberschreitender Frachtverkehr sowie Transporte, die innerhalb eines Landes von Lkw aus einem anderen Land abgewickelt werden – mittlerweile zu 62 Prozent mit Fahrzeugen durchgeführt, die in Ost- oder Südosteuropa registriert sind. Polen hält mit rund 33 Prozent mit Abstand die Spitzenstellung; Litauen und Rumänien kommen mit rund 6 Prozent auf einen Marktanteil, der ebenso hoch ist wie derjenige Deutschlands.

Hinzu kommt, dass auch bei Lkw, die in der Bundesrepublik zugelassen sind, der Anteil der Fahrer aus anderen europäischen Staaten steigt – von kaum 7 Prozent im Jahr 2012 auf fast 20 Prozent im Jahr 2020.

Auf Niedriglohn gebaut

Die systematische Ausbeutung ost- und südosteuropäischer Lkw-Fahrer gelingt auch deswegen, weil es mehreren Staaten der Region gelungen ist, den Frachtverkehr auf der Straße zu einer Säule ihrer Wirtschaft auszubauen. In Polen etwa trug das Speditionsgewerbe im Jahr 2018 bereits rund 6,5 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei.

Transportdienste bedienen dabei auch die Kfz-Branche inklusive Zulieferer, die ihren Ausstoß – gemessen am Wert – seit dem polnischen EU-Beitritt im Jahr 2004 um 127 Prozent auf 27,85 Milliarden Euro (2019) steigern konnte und nun zweitgrößter Sektor der verarbeitenden Industrie in Polen ist; die Branche, die von deutschen Konzernen wie Volkswagen dominiert wird, ist auf Lkw-Transporte zwingend angewiesen.

Ähnlich verhält es sich in Ungarn, einem der bedeutendsten Auslandsstandorte der deutschen Kfz-Industrie, der inzwischen 4 Prozent des gesamten internationalen Lkw-Frachtverkehrs in der EU abwickelt.

Die weitreichende Festlegung der Länder Ost- und Südosteuropas auf wirtschaftlich abhängige Tätigkeiten mit oft schlechter Entlohnung und miserablen Arbeitsbedingungen führt zuweilen zu Exzessen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Das gilt nicht nur für die Situation von Lkw-Fahrern aus Ost- und Südosteuropa, sondern auch für ost- und südosteuropäische Arbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft, in deutschen Schlachtbetrieben und in der deutschen 24-Stunden-Pflege.

„Sehenden Auges in den Verkehrskollaps“

Allerdings zeigt der Mangel an Lkw-Fahrern auch in Deutschland und Polen, dass das System an seine Grenzen stößt. Insbesondere polnische Speditionen haben längst begonnen, Fahrer aus Ländern östlich der EU zu rekrutieren; nach etwas mehr als 20.000 im Jahr 2015 lag ihre Zahl im Jahr 2017 bereits über 65.000.

 Angeworben werden Fahrer längst nicht mehr nur aus der Ukraine und Moldawien, sondern auch aus Belarus oder aus Kasachstan, zuweilen sogar aus den Philippinen. Dennoch lässt sich der Bedarf unter den Bedingungen von Dumpinglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen nicht mehr decken. Das liegt womöglich auch daran, dass die Bedingungen anderswo besser sind als in der EU: Philippinische Fahrer beispielsweise berichten, sie seien in Saudi-Arabien besser behandelt worden als in Europa.

Mit Blick auf den Lkw-Fahrermangel auch in Deutschland urteilt der Vorstandssprecher des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung, Dirk Engelhardt, mutmaßlich werde „in Westeuropa die gleiche Situation“ eintreten wie zur Zeit in Großbritannien, „nur etwas zeitversetzt“: „Wir warnen davor, dass wir auch in Westeuropa sehenden Auges in einen Versorgungskollaps laufen.“

In der Übergangskrise

Großbritannien, das seinerseits Niedriglohnpersonal traditionell stark aus seinen früheren Kolonien rekrutiert, hat mit dem Austritt aus der EU auch Abschied vom Niedriglohnimport aus Ost- und Südosteuropa genommen. Es steckt nun in einer Übergangskrise, von der noch nicht klar ist, wohin sie führt. Bereits im Sommer wurde berichtet, erste Unternehmen böten Lkw-Fahrern deutliche Lohnerhöhungen an.

Jetzt dringt auch die Regierung darauf, den Fahrern „mehr zu zahlen, statt den Markt nur mit billiger Arbeit zu überfluten“; sie gerät dadurch in Konflikt mit der auf Lkw-Transporte angewiesenen Industrie. Die Auseinandersetzungen dauern an.