Medienkonsum und Gesundheit

Nachrichtenüberflutung

(iz). Es war eine große Idee: das Internet, ein weltumspannendes Netzwerk, das die wissenschaftliche und kulturelle Kompetenz eines ganzen Planeten zusammenführt. Soziale Medien, die gesellschaftliche Gruppen und Personen vernetzen und die Methode der Schwarm-Intelligenz in Form einer Orientierung in einer komplizierten Welt einführt.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden diese Errungenschaften mit einer gewissen Skepsis angesehen. Schlimmer noch, es besteht der Argwohn, dass die neuen Medien das moderne Leben eher vergiften als verändern und den Einzelnen entweder in den Narzissmus des „Selfie“, der permanenten Selbstdarstellung, oder aber in allgegenwärtige Formen der Identitätspolitik verstricken.

Nicht selten wird die wachsende Zahl der Depressiven dadurch erklärt, dass die Informations- und Bilderflut ein ungesundes Ausmaß angenommen haben und eher zu einer Flucht aus der Realität und weniger zu einer gesunden Wahrnehmung der menschlichen Lage führt. Die Statistiken der Mediennutzung zeigen, dass wir eine immer größere Zeitspanne vor unseren Smartphones und Computern verbringen.

Bevor man sich an einer Einordnung versucht, sollte man sich klar machen, dass die Innovationen der Technik meist jenseits von gut und böse einzuordnen sind. Was auf der einen Seite eine Segnung ist, ist auf der anderen ein Fluch. Unter dem Stichwort digitale Gesundheit kooperieren tausende Mediziner international zum Wohl der Kranken, während das Bild des gläsernen Patienten ein Wortspiel einführt, dass die Gefahr dieser Entwicklungen anzeigt.

Die Kritik an den Neuen Medien hat in Deutschland eine lange Tradition. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts hat Walter Benjamin einen Grundlagentext verfasst. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ führt in die Revolution ein, die der Fortschritt im Feld der Fotografie und der Filmkunst verursacht. Der Philosoph enthält sich dabei eines endgültigen Urteils, erwartet nicht nur die Veränderung von Sehgewohnheiten, überhaupt der Erkenntnis, sondern ahnt bereits das politisch-soziale Potential der Mediennutzung. Benjamin, der vor den Nationalsozialisten flüchtete, ist sich klar, dass die Möglichkeit der bewegten Bilder von den Ideologien eingesetzt werden.

Er stellt fest, dass das Kunstwerk immer kopiert wurde, aber die technische Reproduzierbarkeit etwas Neues eröffnet. Sie löst endgültig die ursprüngliche Anlehnung der Kunst am religiösen Ritual und ändert radikal die Art der Sinneswahrnehmung. Bei der Reproduktion fällt aus seiner Sicht eines aus, dass Hier und Jetzt des Kunstwerkes – sein einmaliges Dasein an dem Ort, an dem es sich befindet. Die Vervielfältigung setzt an die Stelle eines einzelnen Vorkommens das Massenhafte und wird dadurch politisch nutzbar.

Die Folgen sind ambivalent. Was im Zeitalter der Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes beispielsweise verkümmert, beklagt Benjamin, ist seine Aura. Was er damit meint, kann man in seiner eigenen digitalen Bilddatenbank prüfen. Wir sammeln unzählige Bilder über die Dinge und Ereignisse, die wir wahrnehmen und festhalten, dabei verliert man nicht nur schnell den Überblick, sondern oft das Verständnis, wann etwas vor unsere Kameras geschah und warum. Es fällt schwer die immer wiederkehrenden Bilder, falls wir sie überhaupt nochmals anschauen, an eine bestimmte Entstehungszeit zu knüpfen. In den sozialen Medien verlieren sich die Abbildungen von privaten oder öffentlichen Katastrophen und Ereignissen in einer unheimlichen Beliebigkeit.

Die wachsende Zahl von Videos und kleinen Clips erinnern zudem an ein Bonmot des Kulturkritikers Georges Duhamel: „Ich kann nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.“ Parallel zu dieser Analyse muss man sich die wissenschaftlich belegte Erkenntnis vergegenwärtigen, dass die meisten MediennutzerInnen längere Texte kaum mehr zur Kenntnis nehmen, nur auf Emotionen reagieren und die Standards aus der digitalen Welt in ihren Alltag übernehmen.

In der persönlichen Begegnung trifft man dann öfters auf Zeitgenossen, die alles wissen und sich kaum für das Argument des anderen im konkreten Gespräch interessieren. Noch seltener wird man auf Interesse stoßen, wenn der Gesprächspartner etwa Schnappschüsse von seiner Urlaubsreise oder seinen Stadtrundgängen zeigt. Der Fakt, dass wir fortlaufend von Informationen und Bildern überfüttert werden, lässt sich in eine Metapher übersetzen, die das Problem verbildlicht: Unser Glas ist stets voll.

Eine andere Revolution sieht Benjamin ebenso in seinem Text voraus: „Mit der wachsenden Ausdehnung der Presse, die immer neue politische, religiöse, wissenschaftliche, berufliche, lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte, gerieten immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fallweise – unter die Schreibenden.“ Die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum ist im Begriff ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren.

Ein Phänomen, das die sozialen Medien auf die Spitze treiben. In den diversen Foren des Internets mutiert inzwischen jede Persönlichkeit zum Autor, verbreitet religiöse Theorien oder gibt seine politische Meinung kund. Zu Beginn wurde diese Realität mit der Idee der Demokratisierung verbunden, heute wächst hier die Skepsis, denn Millionen von neuen Autoren publizieren regelmäßig Unsinn, Falschmeldungen und Beleidigungen.

Verändern die sozialen Medien die Gesellschaft zum Negativen? Bevor man sich hier vorschnell eine Meinung bildet, erinnert man sich besser an die Weisheit, dass jede menschliche Tätigkeit, die ohne Maß betrieben wird, direkt oder indirekt krank macht. Aber, zweifellos, betrachtet man die wachsende Zeit, die der Konsument in den sozialen Medien verbringt, lässt sich das Gefahrenpotential kaum herunterspielen.

Die ganze Welt und ihre Krisen im Sekundentakt nachzuvollziehen, birgt offensichtlich die Gefahr, entweder zu verzweifeln oder sich in einer Parallelwelt mit simplen Wahrheiten zu versorgen. Stress, Angst und Panikattacken sind nach wissenschaftlicher Sicht der Preis, der das Überangebot von negativen Informationen mit sich bringt. Im Nachrichtenmagazin „Der SPIEGEL“ hat der Medienforscher McLaughlin aus seiner Untersuchung berichtet, die bestätigt, dass bei 1.100 Befragten etwa 16,5 Prozent zu diesem problematischen Medienkonsum neigen.

Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Nutzung der Medien oft mit der Einsamkeit der Nutzer einhergeht. Es fehlt oft an begleitenden Begegnungen, Gespräche, die die Erfahrungen und Einsichten des alltäglichen Konsums miteinander einordnen. Dass eine reale Situation nicht durch digitale Medien ersetzt werden kann, erkennt man an den Ermüdungserscheinungen, die die zahlreichen Zoom-Konferenzen in uns auslösen. Und jeder, der/die sich als RednerIn in einem virtuellen Forum versucht hat, wird schnell erkennen, wie der Mangel an direkt erfahrener Reaktion den eigenen Redefluss hemmt.

Das gleiche Phänomen werden diejenigen bestätigen, die auf eine sachliche oder Gewinn bringende Diskussion in einem sozialen Medium hoffen. Nicht zufällig endet diese Kontaktaufnahme meist schnell, es wird radikaler – im Vergleich zu einem direkten Austausch – geurteilt und verurteilt. Die Zahl der virtuellen Feindschaften dürfte in dieser Bilanz größer ausfallen, wie die Fälle des Beginns echter Freundschaft.

Natürlich gilt auch im Feld der sozialen Medien der alte Grundsatz, dass die Absicht zählt. Neben dem Rat der Mäßigung der Nutzung bietet sich hier eine weitere Ergänzung an. Wer für ein Thema mobilisiert, nach Gleichgesinnten sucht oder ein konkretes Projekt initiiert, wird in den Foren immer Erfolgserlebnisse verzeichnen. Die Theorie dazu leitet sich von einem Gedanken des Philosophen Slavoj Zizek ab, der das Virtuelle im Sinne einer Vorstufe des Realen ansieht. Dieser Mechanismus funktioniert, je nach Motivation, in einer guten und einer schlechten Dimension. Wer sich zum Ziel setzt, das Netz für ein Projekt zu nutzen oder echte Begegnungen einzuleiten, wird gesündere Erfahrungen verbuchen, im Vergleich zu denjenigen, die nur in einer imaginären Traumwelt von absoluten Wahrheiten das Spiel der Akteure beobachten.

Es ist an der Zeit für die muslimische Community, eine neue Strategie für die kreative Nutzung sozialer Medien anzudenken. Das faszinierende Potential der Mobilisierung, die das Internet ermöglicht, dürfte dabei kaum ernsthaft zur Debatte stehen. Seit Jahren gelingt es uns, in den neuen Medien die bestehenden negativen Assoziationsketten rund um das Phänomen der Muslime in Europa mit positiven Bildern zu konterkarieren. Hier seien drei weitere Beispiele genannt, die wir gemeinsam in den nächsten Jahren umsetzen können: die Neuformierung von Gilden, die Etablierung virtueller Marktplätze und die Finanzierung von richtungsweisenden Projekten durch das Crowdfunding. Die Wirkung der modernen Technologien sind ambivalent, im Ergebnis bleibt aber die Hoffnung, dass sich unsere guten Absichten letztlich durchsetzen.

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Emran Feroz hat ein wichtiges Buch über den Afghanistankonflikt geschrieben

„Trauernde Mütter beerdigen ihre Söhne, den einen mit schwarzem Taliban-Turban, den anderen mit der Uniform der afghanischen Armee. Das ist die wahre Tragödie des Krieges, und sie will, so scheint es, einfach kein Ende nehmen.“

Am 15. August verkündeten die Medien der Welt die Einnahme der afghanischen Hauptstadt Kabul nach einer rapiden, und oft kampflosen, Kampagne der Taliban. Ihre konfusen und erschreckenden Bilder illustrieren das Schlagwort eines „2. Saigon“ und einer „Niederlage des Westens“. Erschreckend aktuell und als Abgesang auf den längsten Krieg der US-Geschichte ist ab dem 30. August das neue gleichnamige Buch des Journalisten und Autoren Emran Feroz im Handel erhältlich.

(iz). Was den Text des Autors, der sich in einem Interview just als „Austro-Afghanen“ bezeichnete, so wichtig macht: Er erzählt nicht den Krieg der Amerikaner (und ihrer Verbündeten), sondern den der Afghanen, der „bereits seit dem Ende 1970er-Jahre“ andauert. Liest man ihn, mutete das jüngst kolportierte Schlagwort von „unserer Niederlage“ beinahe zynisch an, wenn wir bedenken, dass es vor allem die Menschen dieses Landes waren, die seit 1979 (spätestens aber 2001, den eigentlichen Zeitraum des Buches) den höchsten Preis zahlten und weiterhin zahlen.

Sagen, was ist

Emran Feroz’ Buch ist ein starker Text, der noch dadurch gewinnt, dass er sich so weit wie möglich einer Metaebene enthält und dass er Geschichte und Gegenwart sowie seine direkten Erfahrungen und die Berichte seiner Gesprächspartner sprechen lässt. Feroz, der mit offenen Augen durch das Land, seine Geschichte und die aktuellen Vorgänge geht, verzichtet auf die Klassifizierung und Othering des Gegners. Er schildert die Taliban als real-existierenden Bestandteil der afghanischen Gesamtlage.

Seine Absicht sei vor allem gewesen, „die afghanische Sichtweise der Dinge deutlich zu machen“. Er wollte einige Märchen und Falschaussagen „rund um den Afghanistan-Krieg“ dekonstruieren. Afghanistan dürfe „nicht zur Projektionsfläche für den eigenen Eurozentrismus“ werden. Wegen einer Vorprägung „durch die mediale Berichterstattung“ gleiche sein Vorhaben „auch einer Zurückeroberung dieser ganz anderen Sichtweise auf den Krieg in Afghanistan“.

Für ihn sei die eigene Herkunft kein Hindernis, sondern habe vielmehr „eine wichtige, konstruktive Rolle“ gespielt. Denn sein Zugang unterscheide sich grundsätzlich von dem der meisten Kolleg:innen aus dem Westen. Meist sei er, so Emran Feroz, in einfachen Taxis unterwegs gewesen, „und nicht mit kugelsicheren SUVs und bewaffneten Sicherheitspersonal“. Das Buch ist nicht von der Warte des „eingebetteten“ Journalisten geschrieben, sondern profitiert von direkten Eindrücken vor Ort und von Gesprächen mit allen Beteiligten – von Vertretern der Zivilgesellschaft, über korrupte Politiker bis hin zu Repräsentanten der Taliban.

So wie Feroz die Geschichte des unendlich scheinenden Krieges in Afghanistan schreibt, so lässt er auch seine Biografie anklingen an Stellen wie: „Ab dem 12. September 2001 war ich in der Schule plötzlich ‘der Afghane’, mit dem selbst die Türken, Bosniaken oder Serben nichts anfangen konnten.“ Obwohl es notwendigerweise um die Afghanen und ihr Land geht, zeichnet Emran Feroz gleichermaßen die globalen Dimensionen des Anti-Terror-Krieges, den weltweiten Verlust von Bürgerrechten sowie die Militarisierung von Islamkritik. Und „Der längste Krieg“ – auch das ist wichtig – ist eine kritische Obduktion der deutschen Berichterstattung und Debatte. Das ist nicht nur ein theoretisches Spiel, denn beinahe alle Menschen beziehen ihr Wissen (oder Nichtwissen) von Afghanistan über die mediale Vermittlung. „Die westliche Kriegsberichterstattung hat mich meist frustriert (…). Oftmals war sie geprägt von Unwissen oder rassistischen und orientalistischen Stereotypen.“ Allein schon von „den Afghanen“ zu sprechen, offenbare große Ignoranz, denn die verschiedenen Gruppen, die auf dem Boden des heutigen Afghanistan leben, seien überaus heterogen.

„Am 7. Oktober 2001 begann der längste Krieg der amerikanischen Geschichte. Zum damaligen Zeitpunkt wusste das natürlich noch niemand“, beginnt Feroz seine Beschreibung des blutigen Konflikts. Um die folgenden Ereignisse der letzten 20 Jahre zu begreifen, muss man allerdings die Vorgeschichte kennen. Und diesen Dienst leistet der Autor mit seiner präzisen Erzählung, die durch Berichte und Erlebnisse damaliger Zeitgenossen unterfüttert wird.

Genauso wichtig wie die nüchterne Darstellung eines blutigen Krieges ist, deren Opfer noch nicht einmal gänzlich bekannt sind, ist der Perspektivwechsel, zudem uns Emran Feroz zwingt. Denn häufig werde versucht, die Gewalt dieses Konfliktes zu „afghanisieren“. So entstehe ein Bild, wonach der Westen mit all dem nichts zu tun hätte. „Wir wollen doch nur helfen, doch die Barbaren zerfleischen sich untereinander.“ Dieses Narrativ, so der Autor, werde konsequent durchgedrückt und immer wieder neu aufgerollt. „Die Opfer westlicher Gewalt werden stets als Kollateralschäden dargestellt, die man eigentlich nicht töten wollte.“

Friedhof der Afghanen

Ein anderer Topos, der nach dem rapiden Durchmarsch der Taliban erneut die Runde in Redaktionen macht, ist das Schlagwort vom „Friedhof der Supermächte“. Einerseits stimmt das „in gewisser Hinsicht“. Immerhin scheiterte nach den Briten und den Sowjets erneut eine Supermacht am Hindukusch. Andererseits seien es „in erster Linie“ jene Supermächte gewesen, die Afghanistan zum Friedhof der Afghanen gemacht hätten. „All die namenlosen Zivilisten, die in den letzten zwei Jahrzehnten getötet wurden, sind auch der Grund, warum die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten heute als Verlierer dastehen.“ Und diese Gewaltexzesse haben laut dem Autor einen „Rückstoß“ (oder Blowback) für die westlichen Militärmächte erzeugt. „Extremistische Akteure wie die Taliban sind ein großer Teil des Problems. Allerdings sind sie in erster Linie ein Symptom und nicht die Ursache.“

Es ist Emran Feroz zu danken, dass er allzu simple binäre Weltbilder nicht durchgehen lässt. Dies richtet sich vor allem an linke Kritiker des westlichen Engagements am Hindukusch, die gleichzeitig die Besetzung durch die Sowjets und ihren blutigen verherrlichen. „Im Laufe der zehnjährigen sowjetischen Besatzung wurden rund zwei Millionen Afghanen getötet, während zahlreiche weitere als Geflüchtete durch die verschiedensten Länder ziehen mussten.“ Das Buch macht deutlich, dass viele Dinge aus dieser Zeit weiterhin stark mit der Gegenwart verstrickt seien.

Was „Der längste Krieg“ interessant und relevant macht, sind jene Episoden und Entwicklungen, die es nicht in die heutigen Schlagzeilen schaffen. Dazu gehört die Erinnerung, wie der blutige Bürgerkrieg nach Ende der kommunistischen Episode den Boden für die Ankunft der Taliban bereitete. Eine andere, von Emran Feroz beschriebene Entscheidung, ist der Vorgang, durch den der erste Präsident Afghanistans im 21. Jahrhundert, Hamid Karzai, überhaupt an seine Position kam. „Der paschtunische Stammesführer mittleren Alters“ sei damals praktisch ein Niemand gewesen. „Doch er wusste, dass seine Zeit gekommen war.“ Was ihn von den anderen Gegnern der Taliban unterschieden habe, sei gewesen, dass er kein Krieger, sondern ein Diplomat und Politiker gewesen sei. Obwohl ihn Beobachter wie der Diplomat Norbert Holl als Figur mit „begrenztem Potenzial“ erlebt haben, wurde er dank seiner Verbindungen zu entscheidenden Akteuren in das spätere Amt gehievt.

„Der längste Krieg“ ist kein Buch über die politische Klasse des Afghanistans zwischen 2001 und 2021. Aber am Beispiel Karzais, der den ganzen Text hindurch immer wieder auftaucht, wird deutlich, wie ungeeignet sie im Laufe der letzten 20 Jahre war, die Mindestbedingungen für ein friedliches Land zu gewährleisten. Da die Warlords, ehemaligen Kommandeure der Mudschahidin sowie Drogenbarone die Innenpolitik der letzten 20 Jahre mitbestimmten, durch ihre Korruption schon alleine eine größere Entwicklung verunmöglichten und die Menschen von der Regierung entfremdeten, müssen auch sie beleuchtet werden.

Neben einer Darstellung der ideologischen Hintergründe des „War on Terror“ sowie einem Kapitel mit „Auszügen des Grauens“, in dem drastisch die Kriegsverbrechen der internationalen Allianz in Afghanistan beschrieben werden, bildet die Beschreibung der „sechs großen Vergehen des ‘War on Terror’ in Afghanistan“ den Kern des Buches. Gerade durch diese beiden letzten Abschnitte wird klar, dass sich die Menge der Opfer unter der afghanischen Zivilbevölkerung nicht einfach in der Logik einzelner, krimineller Soldaten erklären lassen. Vielmehr sind sie – hier bietet sich der häufig unpassende Vergleich mit Vietnam tatsächlich an – das Ergebnis eines bewussten Kalküls und dementsprechender operationeller und taktischer Vorgaben gewesen. Jüngst merkte selbst „Foreign Affairs“ an, dass das berühmte Schlagwort von „Hearts & Minds“ auch in Afghanistan nicht funktioniert habe.

Folter

Das erste „Vergehen“ der westlichen Mächte sei die Beförderung von Terror durch Folter gewesen. Feroz erzählt die Geschichte der Misshandlungen und ihres „Blowbacks“ anhand des berühmt-berüchtigten Stützpunktes Bagram. In dieser „Art afghanisches Guantanamo“ sei tagtäglich gefoltert worden. Die meisten Häftlinge in der bereits von den Sowjets errichteten Basis blieben namenlos und unbekannt. Entschädigungen für die Getöteten und Misshandelten wurden bisher nicht gezahlt. Bagram war aber nicht „nur“ Ort von Folter und Tod, sondern auch der Anstoß für Radikalisierung. Viele Opfer hätten sich „erst nach ihrer Freilassung“ extremistischen Gruppen angeschlossen.

Rassismus und Muslimfeindlichkeit

Als zweiten Punkt sieht Emran Feroz eine „Kreuzzügler-Kultur“ unter westlichen Truppen, Ideologen des Einsatzes und in den Medien. Das Narrativ von Gut gegen Böse sei ein Tabu im Westen und würde in den USA, in Europa und in Australien nur selten hinterfragt. Viele westliche Soldaten in Afghanistan hätten die Afghanen „nicht als Individuen“ gesehen, denen man auf gleicher Augenhöhe begegnen müsse, „sondern als Freiwild, das zum Abschuss freigegeben wurde“. Ein Beispiel dafür sei die Verherrlichung der Soldaten in der heutigen Popkultur.

Korruption und politisches Scheitern

Drittens beschreibt „Der längste Krieg“ den Komplex aus „Warlordismus“, Korruption und der „Lüge der Demokratie“. Es sei das Personal, das nach dem Einmarsch ab 2001 an die Macht kam, welches einen möglichen Rechtsstaat in Afghanistan „konsequent ausgehöhlt“ habe. Karzai und Konsorten hätten Korruption geduldet und gefördert. Außer den Familien im Umfeld der politischen Macht zählten die ehemaligen Warlords und Mudschahidin-Führer zu den größten Plünderern des jungen Staates. Von den vielen Geldkoffern, welche die neuen Herren nach Afghanistan brachten, hätten viele das Land auch wieder verlassen. „Im Schatten von Slums und Flüchtlingslagern“ in Kabul seien pompöse Villen und Hochhäuser entstanden. Milliarden Hilfsgelder für Witwen, Kinder und Bauern seien an die Profiteure der Regierung geflossen.

Gegen-Terror

Das vierte Vergehen des Westens in Afghanistan sei der Terror durch „CIA-Schergen“ gewesen. Im Laufe des Anti-Terror-Kriegs wurde dieser Gegen-Terror durch Medien und Experten als „Aufstandsbekämpfung“ beschönigt. Den Menschen im Westen sei immer wieder weisgemacht worden, dass die nötige Gewalt nur gegen Terroristen und nicht gegen Zivilisten gerichtet sei. Entgegen des herrschenden Narrativs von „präzisen“ Drohnen und Geheimoperation seien unzählige Menschen durch „Predator-Drohnen der Amerikaner“ gejagt und ermordet wurden. Bisher blieben diese Opfer sowohl namenlos als auch gesichtslos.

Verursachung von Flucht

Als vorletzten Kritikpunkt am westlichen Projekt in Afghanistan führt Emran Feroz die „Generierung von Fluchtwellen“ an. Am Beispiel 2015 macht der Autor deutlich, dass die Regierung allein durch die Ausstellung von Reisepässen Profite durch die Ausreisewilligen erzeugen wollte. Dank einer instabilen Regierung des nun geflohenen Präsidenten Ghani schufen Selbstmordangriffe der Taliban und Anschläge ein Klima der Angst, vor dem viele über die Grenze flohen. „2015 gehörte der Krieg in Afghanistan zu den tödlichsten Konflikten der Welt.“ Bereits an diesem Punkt hätten die NATO-Missionen all ihre Ziele verfehlt. Anhand eindrücklicher Beispiele beschreibt Emran Feroz, wie diese schon schwere Lage durch das langjährige Abschieberegime europäischer Staaten wie Deutschland und Österreich erschwert wurde. In diesem Thema sieht Feroz eine verhängnisvolle Verbindung von inhumaner Abschiebepraxis mit einer korrupten afghanischen Regierung.

Frauen

Und schließlich spricht Emran Feroz das schmerzhafte Kapitel der Lage von Frauen während des gesamten Krieges, unter den Taliban aber auch in unserer hiesigen Propaganda an. Für ihn ist die vorgebliche „Frauenbefreiung“ des westlichen Einsatzes eine „Mär“. Seit jeher gehöre dieses Thema „zu den wichtigsten Argumenten für Militärintervention am Hindukusch“. Ein Topos, an dem sich bereits das imperiale Großbritannien versucht habe. Dabei werde meist unterschlagen, „dass es den westlichen Mächten in Afghanistan nie um die afghanische Frau ging“. Es seien vor allem Afghanen selbst gewesen, die positive Errungenschaften in Gang gebracht hätten – „ohne westliche Hilfe“. Vielmehr hätte der Westen in den letzten zwei Jahrzehnten Strukturen gefördert, die zutiefst frauenfeindlich seien. Sie stünden echten progressiven Projekten aufgrund ihrer Korruption und Machtgier im Weg. „Die Kabuler Regierung und ihre westlichen Verbündeten schrieben sich zwar die Rechte der Frau auf die Fahne, allerdings traten sie diese meist mit Füßen.“

„Alle Beteiligten sollten wissen“, schreibt Emran Feroz im Schlusskapitel, „dass der Krieg am Hindukusch nur mit Worten und nicht mit Waffen gelöst werden kann.“ Diese neue Geschichte des modernen Afghanistankrieges ist ein hartes und manchmal drastisches Buch. Aber es ist auch Aufklärung im echten Sinne des Wortes, die mit Verzerrungen, Missverständnissen und krassen Fehlern aufräumt. Als solches gehört es in die Hand eines jeden, der diesen „längsten Krieg“ verstehen will. Es ist darüber hinaus auch die Frucht einer jahrelangen Beschäftigung durch Emran Feroz mit Afghanistan und seinen Menschen, wie sie nur die wenigsten seiner Kollegen in den „Qualitätsmedien“ fertigbringen.

Und, es gibt Momente der Hoffnung: „Während der Feiertage des islamischen Opferfests fanden in den letzten Jahren stets Waffenstillstände zwischen den Kriegsparteien statt.“ Warum nicht immer Opferfest, fragt Emran Feroz Taliban-Kämpfer und -Unterhändler gleichermaßen.

Emran Feroz, Der längste Krieg, Westend Verlag Berlin, August 2021, broschiert (auch eBook und Audio-CD), 176 Seiten, ISBN 978-3864893285, Preis: EUR 18.–

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„Wir leben in radikalen Zeiten“

Die Ausländerfeindlichkeit der 1980er Jahre hat sich in eine antimuslimische Grundhaltung gewandelt, kritisieren Muslime. Über Gründe und Auswege diskutierten Experten in Osnabrück. (iz). Passender hätte der Zeitpunkt nicht gewählt werden […]

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Muslime im Fokus

Das Thema Muslime in den Medien – im Sinne einer Aufklärung über die Lebenswirklichkeit und Gestalt der Lebenspraxis von Muslimen – wird im Moment wieder lebhaft diskutiert. Muslime tauchen in den Debatten in unterschiedlichem Kontext auf, wenn auch selten als deutsche BürgerInnen und überhaupt nur ausnahmsweise mit positiver Tonierung, aber immer öfter im Kontext von „Flucht“, „Terror“ oder „Immigrationsproblemen“.
Medien folgen heute bei der Berichterstattung über „heiße“ Themen einem „Sofortismus“ (Bernhard Pörksen) und sortieren spektakuläre Ereignisse, wie die schändlichen Angriffe auf Frauen in Köln, immer schneller ein. Soll das Zusammenleben in Deutschland aber weiter funktionieren, gilt es im medialen Umgang mit den Millionen von Muslimen im Lande insbesondere die Kräfte der Differenzierung zu stärken.
Für uns Muslime ist es dabei wichtig, nicht nur die Klage über Grobheiten im medialen Umgang mit uns zu betreiben, sondern das Thema des Umgangs mit den  Medien in einen geschichtlichen, philosophischen und technologischen Kontext zu setzen. Nur so können wir die aktuelle Dynamik der Informationsverbreitung besser einordnen, ihr konstruktiv begegnen und uns hoffentlich besser an den Auseinandersetzungen um die öffentliche Meinung beteiligen.
Am Beispiel der Entstehungsgeschichte von „Zeitungen“ wird klar, dass wir uns bei der historischen Einordnung moderner Medien zunächst mit dem geschichtlichen Kontext der Aufklärung beschäftigen müssen. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gab es in Europa vor allem eine Anwesenheitskommunikation. Rudolf Schlögl beschreibt dieses Phänomen in seinem wichtigen Aufsatz „Politik beobachten“ wie folgt: „Wenn die Gemeinde der Bürger sich gegenüber dem Rat artikulierte, indem sie vor dem Rathaus zusammenlief, mit dem Sturm auf das Rathaus drohte und einen Ausschuss bildete, der mit dem Rat verhandelte, dann wurde Politik nicht beobachtet, sondern es wurde Politik gemacht.“
Dieser direkte Austausch an der Basis wurde bald selten. Neue Drucktechniken stellten Kommunikationsmedien zur Verfügung, mit deren Hilfe die Reichweite von Herrschaft sich beträchtlich erweitern ließ, weil sie von der Anwesenheit der Herrschenden entkoppelt werden kann. Es entstand nicht nur eine neue Distanz zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern auch eine ganz neue Perspektive, die beobachtende Öffentlichkeit.
Die Zeitschriften und Journale, die seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in wachsender Zahl gegründet wurden, sahen zunächst darin eine wichtige Aufgabe, dem Leser Orientierung in der Fülle der zahlreichen neuen Buchtexte zu verschaffen. Dies hatte in den periodischen Printmedien naturgemäß eine Säkularisierung des Weltbezuges zur Folge. Das heißt, Medien beförderten mit Macht den „Rückzug der biblischen Prophetie“, stellten die alten religiösen Erklärungsmodelle in Frage und boten dagegen einen diskursiven Freiraum des Politischen an.
Medienkritik begleitete dabei übrigens die Zeitungen seit ihrer Einführung. Der Gelehrte und Sprachwissenschaftler Casper Stieler merkte am Ende des 17. Jahrhunderts an, „dass man in Zeitungen generell mit Nachrichten über wahre und vermeintlich wahre Dinge“ zu tun habe und die Zeitungsnachricht deswegen keinen anderen Status habe als das Gerücht.
Natürlich veränderten „Zeitungen“ auch das politische Feld. So informierten sich europäische Staaten beispielsweise nicht mehr nur mit dem Mittel der Anwesenheitskommunikation über ihre jeweiligen Absichten, sondern man las zunehmend in überregionalen Zeitungen übereinander. Zeitungen schafften so eine permanente Öffentlichkeit, die sich nicht mehr vor Ort informierte. In diesem Kontext zeigten sich auch innerhalb der Staaten die Möglichkeiten von Freiheit und Unfreiheit: Die Öffentlichkeit beobachtete den Staat, der Staat beobachtete die Zeitungen (Zensur).
Als problematisch zeigte sich im 19. Jahrhundert insbesondere das Verhältnis von Medien und Ideologie. Natürlich eigneten sich die neuen Techniken nicht nur für die Verbreitung bestimmter Überzeugungen, sondern im schlimmsten Fall auch zur Steigerung radikaler Subjektivität, bis zur Förderung radikaler Parteiungen. Philosophisch kann man wohl sagen, dass Medien nicht nur Informationen verbreiten, sondern auch einem bestimmten Willen zur Macht dienen können. Der Wille zur Macht ist dabei nicht etwa ein Wille zur Wahrheit, sondern ein Wille zum Schein, und zeigt sich auch gerade in dem Vermögen, subjektive Positionen mit absolutem Wahrheitsfuror zu verbreiten.
Heute wird dieses Phänomen der Einseitigkeit durch die Nutzung von Suchmaschinen und ihren Algorithmen verstärkt. Der individualisierte Medien­rezipient wird oft automatisch nur noch mit solchen Medienbotschaften beliefert, die zu seinen Vorlieben passen und ihm somit jede kognitive Dissonanz ­ersparen.
Natürlich suchten Philosophen wie Nietzsche, ganz im Gegensatz zum Typus des modernen Agitators, immer noch nach höherer, übermenschlicher Wahrheit. Nietzsche stellte über die Machenschaften des Journalismus eher spöttisch fest: „Mit Zeitungen, selbst den wohlgemeintesten, kann und darf ich mich nicht einlassen: — ein Attentat auf das gesamte moderne Presswesen liegt in dem Bereiche meiner zukünftigen Aufgaben.“
Auch Goethe sieht bereits die typische Gefahr der Politisierung der Gesellschaft durch Medien: „Wenn man einige Monate die Zeitungen nicht gelesen hat, und man liest sie alsdann zusammen, so zeigt sich erst, wieviel Zeit man mit diesen Papieren verdirbt. Die Welt war immer in Parteien geteilt, besonders ist sie es jetzt, und während jedes zweifelhaften Zustandes kirrt der Zeitungsschreiber eine oder die andere Partei mehr oder weniger und nährt die innere Neigung und Abneigung von Tag zu Tag, bis zuletzt Entscheidung eintritt und das Geschehene wie eine Gottheit angestaunt wird.“
Die Mahnung des Dichterfürsten klingt auch heute, wo in den Debatten schnell ein Extrem das Andere ablöst, hochaktuell. Tatsächlich sorgte sich schon im 19. Jahrhundert eine Elite, dass die Medien – vor allem, wenn sie in keine friedliche Philosophie eingebettet sind – letztlich die Freund-Feind-Verhältnisse schüren, verstärken und so auch harte Konflikte vorbereiten können.
Wenn man heute modernen Medien oft einseitige Berichterstattung über die Kriege unserer Zeit vorwirft, sollte man nicht vergessen, dass sich die Zeitungskultur gerade auch flächendeckend durchsetzte, weil sie die großen Schlachten des 18. Jahrhunderts begleitete. Dabei prägte ihre subjektive Darstellungsform eine bestimmte Perspektive. Die Berichterstattung erfolgte gewissermaßen vom Posten des Feldherrn und gewöhnte den Leser daran, die Welt aus der Sicht des Herrschers wahrzunehmen. Der Lyriker Christian Friedrich Hebbel (1813-1863) mahnte insoweit: „Zeitungen sind die einzige dem Schießpulver analoge Erfindung, und eine noch gefährlichere als diese, denn sie dienen nur einer Partei.“
Es wäre ein weiteres Thema, die spätere Politisierung der Medien im Zeitalter der Herrschaft des Nationalsozialismus zu untersuchen. Technologische Innovationen, ideologische Positionierungen und die Dialektik gegen die Gegner (und ihre „Lügenpresse“) schafften unter anderem den öffentlichen Raum für die politische Perversion der Nationalsozialisten. Im Dritten Reich war es zudem noch möglich, Rundfunk, Fernsehen und Printmedien einem politischen Willen zu unterwerfen.
Als eine der Erfahrungen aus der Überwindung der Ideologien sollte sich in der Bundesrepublik auch die Rolle der Medien verändern. Sie sollen, als eine Art „Vierte Gewalt“, zwar keine eigene Gewalt haben, aber die Macht zur Änderung der Politik oder zur Ahndung von Machtmissbrauch besitzen und so durch eine freie Berichterstattung die öffentliche Diskussion und das politische Geschehen beeinflussen können. Die eigentlichen Herausforderungen für diese neue Freiheit der Medien sind in der Nachkriegszeit weniger politischer, sondern ökonomischer und technischer Natur. Ein Problem ist dabei die immer größere Abhängigkeit der großen Medien vom Kapital und die Tendenz zur Medienkonzentration.
Die Rolle neuer Technologien verändert heute die Medienlandschaft dramatisch. Der Anteil der Menschen in Deutschland, die sich in einer (Print-) Zeitung über das aktuelle Geschehen informieren, ist seit 2005 von 51 auf nur noch 36 Prozent gefallen. Das Durchschnittsalter des Spiegel-Online-Lesers, so liest man bei Telepolis, liegt heute bei 53 Jahren, bei der Printausgabe sogar noch deutlich höher. Das Internet bietet gleichzeitig auch muslimischen Medien ihre Nischen und Möglichkeiten, das herrschende Bild der Mainstream-Medien zu verändern.
Natürlich müssen wir uns auch gerade in den Onlinemedien mit tendenziöser Berichterstattung und grundsätzlich fragwürdigen Techniken der Berichterstattung beschäftigen. Gerade die neuen Medien bieten auch spezifisch neue Möglichkeiten der Schädigung des politischen Gegners. Wie schon an anderer Stelle in der IZ ausgeführt, geht es hier um „Assoziationstechniken“, Fragen der Definitionshoheit, die Markierung von Andersdenkenden als „Islamisten“ und natürlich auch hier um die Ablehnung paradoxer Wortschöpfungen wie den „islamischen“ Terrorismus.
Der eindeutige Trend der Jugend hin zu den sozialen Medien als die primäre Informationsquelle wird unsere Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Privatheit jedenfalls weiter radikal ändern. Die Internetpräsenz der großen Medienhäuser verschärft gleichzeitig den Kostendruck, da die Ausgaben für einen Qualitätsjournalismus gleich bleiben, aber die Werbeeinnahmen nur für sehr erfolgreiche Portale lukrativ sind. Vielen Medien ist der ökonomische Druck, der sich in oberflächlicher und plakativer Berichterstattung zeigt, bereits deutlich anzumerken. Gerade in der Berichterstattung über strittige Themen wie den Islam, entscheiden auch profane Verkaufszahlen über den Tenor der Berichterstattung. Hinzu kommt, dass muslimische Terroristen die mediale Wirkung als Teil ihrer Strategie begreifen. Sie nutzen für sich die Asymmetrie zwischen der eigenen realpolitischen Bedeutung und der öffentlichen Wirkung.
Der Philosoph Peter Sloterdijk beschrieb nach dem 11. September, sicher auch eine Zeitenwende in Bezug der Berichterstattung über die Muslime, ein grundsätzliches Phänomen. Der Terrorismus wird aus Sicht des Denkers bei uns geradezu sakralisiert und Medien nutzten dabei ihre Macht der Vergrößerung. „Nadelstichgroße Effekte im Realen werden “ so Sloterdijk „durch unsere Medien bis auf das Format von interstellaren Phänomenen vergrößert.“
Zweifellos gehört es zur Macht von Medien Ereignisse zu verstärken, manchmal auch quasi zu vermarkten. Muslime werden heute in den Medien nicht zufällig eher als „Täter“, seltener aber als „Opfer“ dargestellt. Gegen diesen Eindruck kann man, wenn man will, allerdings auch Fakten setzen. Natürlich gibt es Journalisten, die – gegen den aktuellen Trend – eine differenzierte Position gewissenhaft recherchieren und auch verbreiten. Diesen Versuch zur Differenzierung unternahm zum Beispiel Rüdiger Scheideges vom „Handelsblatt“. In seinem Artikel weist er nach, dass die größten Opferzahlen des globalen Terrorismus Muslime sind. Auch die schnelle Verknüpfung von Terror und Islam sieht er skeptisch. So mahnt er:  „2014 sind weltweit rund 33.000 Menschen durch Terrorismus (nicht durch Kriege!) vernichtet worden. In westlichen Ländern aber ist der islamische Fundamentalismus entgegen unserer Wahrnehmung nicht die Hauptursache für Terrorismus: 80 Prozent aller Getöteten standen nicht im Fadenkreuz von Dschihadisten, sondern sind Opfer von Einzeltätern, die politische oder religiöse Extremisten, Nationalisten oder Rassisten waren.“
Das Phänomen des IS/Daesh stellt nochmals eine Steigerung der Begriffsverwirrung und der Verbreitung dunkler Assoziationsketten dar. Die Debatte über die Muslime in den Medien hat sich seit dem IS-Terror nochmals deutlich verschärft. Die NGO „Mediatenor“ hat für eine Studie nach eigenen Angaben alle 265.950 Berichte über Akteure sowie 5.141 Berichte über den Islam, die katholische und evangelische Kirche in 19 deutschen TV-, Radio- und Printmedien ausgewertet. Christian Kolmer, Leiter für Politik bei Mediatenor, bringt die Lage auf den Punkt: „Der Islamische Staat katapultiert das Medien-Image des Islam in einen katastrophalen Zustand.“ Gleichzeitig bringt der Experte die künftigen Herausforderungen für uns Muslime auf den Punkt: „Wie das Image des Islam sich aus diesem absoluten Tiefstand erholen soll und in welchem Zeitraum das möglich ist, muss alle Kräfte der Integration mit größter Sorge erfüllen“.

Bundestagspräsident: keine Parallelen zu Weimar

Passau (KNA). Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat eine „zunehmende Verrohung der Sitten und des Umgangs miteinander“ beklagt. „Was wir in den sozialen Netzwerken an Stil und Form der Auseinandersetzung erleben, spottet oft jeder Beschreibung“, sagte der CDU-Politiker der „Passauer Neue Presse“ (Samstag). „Mich bestürzt, dass Woche für Woche Menschen auf die Straße gehen, die ihre vermeintliche Sorge vor der Islamisierung des Abendlandes bekunden, aber selbst nicht die Mindeststandards der Kultur unseres Landes einhalten, für die sie angeblich kämpfen“ sagte der Bundestagspräsident.
Eine Staatskrise und Parallelen zur Weimarer Republik sieht der CDU-Politiker aber derzeit nicht. „Wir erleben erfreulicherweise eine Solidarität von Demokraten, die es damals nicht gegeben hat“, sagte er. Ein beachtlicher Teil des Ringens um die richtige Lösung in der Flüchtlingspolitik finde im Bundestag statt, gerade auch in den Fraktionssitzungen. „Da wird Tacheles geredet, unter Wahrung des Respekts vor dem anderen und seiner Überzeugung, ohne Beschimpfungen und Beleidigungen – im Unterschied zu manchen Entgleisungen auf Straßen, Plätzen und in sozialen Netzwerken.“
Lammert sprach sich für eine faire Auseinandersetzung mit der Partei „Alternative für Deutschland“ aus. „Wir sollten mit der AfD nicht anders umgehen als mit jeder anderen Partei auch. Über ernsthafte Themen muss ernsthaft geredet werden“, forderte der Bundestagspräsident. „Wir sollten Besorgnisse ernst nehmen und offenkundig unzutreffende Behauptungen entlarven. Klartext zu sprechen und gleichzeitig den Respekt gegenüber anderen Überzeugungen erkennen zu lassen, darauf kommt es an“, so Lammert.
Photo by evangelisch

Der Gewinner ist die AfD

Es hat sich eingebrannt, das Holzkreuz, angemalt in Schwarz-Rot-Gold. Eine neue Studie zeigt jedoch, dass die Mehrheit der Pegida-Demonstranten nicht nur konfessionslos ist, sondern den Kirchen sogar misstraut.
Bonn (KNA) Von falscher Symbolik sprach vor kurzem der evangelische Bischof Gerhard Ulrich. Der katholische Erzbischof Ludwig Schick mahnte wiederholt, Christen sollten dort nicht mitmachen: bei Pegida, der Protestbewegung, die seit Herbst 2014 wöchentlich in Dresden demonstriert. Wer einem Kreuz in Nationalfarben folge, „hat nicht verstanden, aus welcher Geschichte und Kultur er selber kommt“, sagte Ulrich der „Zeit“-Beilage „Christ und Welt“.
Nun zeigt sich, dass Geschichte und Kultur den Pegida-Anhängern ohnehin eher Mittel zum Zweck sind. Eine Mehrheit bringt den Kirchen nämlich kaum Vertrauen entgegen. Das geht aus einer am Sonntag vorgestellten Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung hervor. Knapp zwei Drittel der Befragten (65,2 Prozent) gaben demnach an, wenig oder gar kein Vertrauen in die Kirchen zu haben; nur 6,6 Prozent sprachen von vollstem oder viel Vertrauen.
Die Forscher um den Politologen Franz Walter hatten nach eigenen Angaben im November Print-Fragebögen mit frankierten Rückumschlägen auf einer Demonstration verteilt. Von 1.800 Bögen erhielten sie 610 zurück. Die Studie sei also nicht im strengen Sinne repräsentativ, sondern Baustein eines Forschungsprojektes, schreibt das Team in einem Blogeintrag auf der Homepage des Instituts.
Die Zahl der Konfessionslosen unter den Umfrage-Teilnehmern überwiege indes „deutlich“, wie das Forscherteam auf Spiegel Online erläutert. Und: Die Islamfeindlichkeit hat sich konkretisiert. „Der“ Islam stehe „nicht mehr nur als Chiffre für einen amorphen kulturellen und gesellschaftlichen Verfall und die Bedrohung durch ein vermeintlich ‘Fremdes’“, betonen die Forscher in ihrem Blog.
Es gehe den Demonstranten um die tatsächliche Religionsgemeinschaft, „die praktizierenden Moslems bzw. deren ‘nordafrikanisch-arabischen Kulturkreis’“. Dies bezeugten handschriftliche Anmerkungen auf den zurückgesandten Fragebögen – die vor den Gewalttaten der Silvesternacht ausgefüllt wurden.
Auch an der Positionierung zur Flüchtlingsdebatte werde die Haltung gegenüber dem Islam deutlich: „Grundsätzlich äußern viele Befragte eine gewisse Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen – ausgenommen denjenigen aus islamischen Regionen.“ 45 Prozent forderten hier „eine klare Differenzierung“.
Die parteipolitische Gewinnerin dieser Entwicklung ist die AfD. Ein Drittel der Pegida-Anhänger wählte die Partei bereits bei der letzten Bundestagswahl; aktuelle Umfragen sehen sie bei 12 Prozent. Für Aufsehen sorgte am Wochenende die Äußerung von Parteichefin Frauke Petry, die Polizei müsse an der Grenze „notfalls“ Schusswaffen gegen Flüchtlinge einsetzen.
Vertreter der anderen Parteien äußerten sich entrüstet, doch bei den Pegida-Anhängern trifft Petry womöglich auf offene Ohren. Deren Ton habe sich im Vergleich zu Vorjahresbeginn verschärft, konstatieren die Göttinger Wissenschaftler. 41 Prozent der Befragten sprachen allen Menschen das Recht auf Asyl in Deutschland ab. 94 Prozent der Demonstranten plädierten für autoritäre Krisenlösungen, 82 Prozent forderten die „Befestigung und Verteidigung“ der deutschen Grenzen.
Die Studie hebt noch einen weiteren Aspekt hervor, der in der öffentlichen Debatte oft untergeht – fordern Politiker doch immer wieder Verständnis für die besorgten Bürger, die um ihre Jobs oder die hart erarbeiteten Ersparnisse fürchten. Dabei, so die Studie, hat rund ein Viertel der Pegida-Anhänger einen Universitäts- oder Hochschulabschluss, ein Drittel einen Berufsschulabschluss. Die Mehrheit ist zudem berufstätig (52 Prozent) oder in Rente (34 Prozent).
Von den sozial ausgegrenzten Schichten finde sich, so die Forscher, „kaum eine Spur“: 45 Prozent der Befragten schätzen ihre individuelle Lage als gut bis sehr gut ein, nur etwa 12 Prozent als schlecht bis sehr schlecht. Es sei also gut möglich, dass sich der Rechtspopulismus auch in Deutschland sozialstrukturell erweitert habe, schreiben die Forscher auf Spiegel Online: „Die Zivilgesellschaft hat Zuwachs im Engagementbereich erhalten – aber anders, als die Theoretiker und Festredner der Bürgergesellschaft und der Selbstinitiative sich das stets gewünscht und naiverweise erhofft hatten.“
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Wunsch nach Unruhe?

(iz). Die Übergriffe von Kriminellen und Dieben auf Frauen während der Silvesternacht in Köln und anderen Städten hat eine neue Debatte über Kriminalität und Migration hervorgerufen. Als Reaktion haben sich […]

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Medienanalyse: Warum die Redaktionen so ­gerne über schräge Vögel berichten. ­Hintergründe von Eren Güvercin zur ­Islamberichterstattung

(iz). Die deutschen Medien lieben den Islam. Eine Auswahl von Talkshow-Titeln: „Mord im Namen Allahs“ (Illner), „Gewalt im Namen Allahs – Wie denken unsere Muslime?“ (Jauch), „Auf Streife für Allah?“ (Hart aber Fair) oder „Allahs Krieger im Westen“ (Will). Auch große Magazine ticken ähnlich. Der SPIEGEL brachte Cover wie „Mekka Deutschland“, mit dem Brandenburger Tor vor pechschwarzem Hintergrund, und das lange, bevor Pegida überhaupt existierte. Alles schön dramatisch, alles schön alarmierend. Auch ich als muslimischer Journalist bekomme das zu spüren. Immer wieder fragen mich muslimische Freunde und Bekannte: „Warum berichten die Medien immer negativ über uns Muslime?“

Kai Hafez, der in Erfurt Kommunikationswissenschaft lehrt, beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Islambild deutscher Medien. Seine Ergebnisse veröffentlicht er unter anderem im Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung. Dabei wurden in 13 Ländern insgesamt 14.000 Menschen zu ihren persönlichen religiösen Einstellungen und zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft befragt. Er hat festgestellt, dass die Konflikte in der muslimischen Welt die Berichterstattung dominieren, und Bereiche wie Kultur oder Wirtschaft keine oder nur eine sehr geringe Rolle spielen.

Der Blick auf die Region werde stark durch den Faktor Islam beeinflusst. „Der Islam wird sozusagen immer mehr als Schlüssel zur Interpretation der Region benutzt“, so Hafez. „Islamismus ist ein zentraler Faktor, aber bei weitem nicht genug, um die Entwicklung dieser Länder zu verstehen, die man eher sozio-ökonomisch deuten, also mit anderen, ganz anderen Instrumentarien anfassen sollte.“

Auch das Schweizer Institut „Media Tenor“ befasst sich mit Medienanalyse. Christian Kolmer untersucht dort das Image von Religionen und Kirchen, und stellt fest, dass die Islam-Berichterstattung immer wichtiger wurde, aber eben auch immer negativer – gerade im Jahr 2014. „Die Hauptursache dafür ist, dass Terroristen und militante Gruppen, die sich auf den Islam berufen, den größten Anteil der Berichterstattung einnehmen, während der Alltag der Muslime im Nahen Osten aber auch im Westens praktisch keine Rolle spielt.“ Kolmer stellt auch fest, dass nicht nur das Islambild in den Medien durch Negativschlagzeilen geprägt ist.

Religion an sich habe kein positives mediales Image. Ein Grund dafür: die vielen Skandale in der Kirche. Im Gegensatz zu Muslimen hätten Kirchen die Möglichkeit, mit ihren Positionen wahrgenommen zu werden. Geistliche Führer oder Imame kämen in der Berichterstattung selten zu Wort – es sei denn, sie vertreten extreme Positionen. Statt repräsentative Imame, bekommen eher salafistische Prediger eine Bühne.

Vor einigen Monaten etwa war die so genannte Scharia-Polizei von Wuppertal Thema in deutschen Medien. Die Medienaufmerksamkeit war enorm. Salafisten um Sven Lau in Wuppertal haben sich über diese gratis PR-Arbeit gefreut. Ihre Kalkulation ging auf. Die Talkshow „Hart aber fair“ griff das Thema auf und titelte: „Auf Streife für Allah – vor welchem Islam müssen wir Angst haben?“ Gast war unter anderem der Leipziger Prediger Hassan Dabbagh. Warum betitelt „Hart aber Fair“ die Sendung so hysterisch? Und warum einem dubiosen Prediger eine Bühne geben, der für eine verschwindend kleine Minderheit spricht?

Georg Diedenhofen, Redaktionsleiter bei „Hart aber fair“, sieht in solchen Schlagzeilen kein Problem. Die Titel einer Talkshow würde die Menschen nicht beeinflussen. „Ich glaube eher, es bringt sie dazu, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen“, meint er. Schließlich müsse man es als Redaktion hinbekommen, Zuschauer einem 75-minütigen Gespräch im Fernsehen zu folgen. Provokative Titel sollen die Lust beim Zuschauer wecken, und ein schriller Gast hebt die Quote. Das muss nicht primär schlecht sein. Aber die Verwendung von Titeln, die eher aggressiv und zugespitzt sind, prägen langfristig die Sicht der Menschen auf den Islam und die hier lebenden Muslime.

Kai Hafez ist überzeugt, dass Medien die Wahrnehmung von Muslimen und Islam wesentlich prägen. Denn die meisten Menschen haben nach Ergebnis des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung mit Muslimen und ihren Lebenswelten keinen direkten Kontakt. Sie sind abhängig von Sekundärinformationen. „In der Schule erfahren sie sehr wenig über die islamische Welt, bleiben am Ende die Medien als Stichwortgeber.“. Wenn dort täglich Negativnachrichten laufen, verzerre das die Wahrnehmung und gebe populistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen wie Pegida Vorschub. Hafez benutzt dafür das Bild des Zauberlehrlings: „Die Medien haben eine Kreatur geschaffen – die Islamfeindlichkeit – die sie dann, wenn es zu schwierig und krisenhaft wird, durch kritische Berichterstattung gegenüber diesen fremdenfeindlichen Bewegungen wieder versuchen in Schach zu kriegen.“ Hafez spricht daher von einem „virtuellen Islam“, der mehr und mehr das Islambild der Menschen bestimme. Ein künstliches Bedrohungs- und Repressionsbild führe zu einer verbreiteten Angst unter der Bevölkerung, auch wenn es mit der Realität der hier lebenden Muslime nichts zu tun habe.

Wie gehen hier lebende Muslime mit dem Islambild in den Medien um? Von muslimischen Freunden und Bekannten werde ich oft gefragt: „Hast Du, als muslimischer Journalist, überhaupt freie Hand, dass zu schreiben, was Du willst?“ In der Tat gibt es innerhalb und außerhalb der Redaktionen Leute, die bewusst den üblichen so genannten Islamexperten Raum geben und eine Agenda verfolgen. Eine Redaktion bekam vor einiger Zeit einmal einen Brief von einem „Islam­experten“ einer parteinahen Stiftung, in dem diese Person mich als „Islamisten“ bezeichnete, der „Mainstreammedien unterwandere“. Wir waren uns nie begegnet und gesprochen haben wir auch nie miteinander. Aber anscheinend fühlte er sich durch meine journalistische Tätigkeit ­gestört.

Es gibt solche und ähnliche ideologische Akteure, die nicht wollen, dass Muslime die mediale Bühne betreten und vielleicht ein anderes Bild vermitteln. Da passen Hardliner wie Hassan Dabbagh schon besser ins Bild. Aber auch auf der anderen, der „liberalen“ Seite treten Muslime auf, die den Anspruch haben, für die so genannte schweigende Mehrheit der Muslime zu sprechen. Niemand stellt die Frage, wie man für eine Gruppe, die schweigt, sprechen kann. Die breite Mitte der Muslime bleibt zumindest auf der medialen Plattform erschreckend abwesend.

Vermehrt haben Muslime das Gefühl, dass viele Medien eine Agenda verfolgen. Und hysterische Titelstorys schüren natürlich die Vorstellung einer „Verschwörung“. Wenn man aber einen Einblick in die journalistische Arbeit bekommt, merkt man schnell, dass die wenigsten Journalisten bewusst Dinge unterschlagen oder negativ präsentieren. Es ist eher so, dass viele Redakteure zu einseitig informiert sind und bisher als Quelle oft nur „islamkritische“ Experten hatten. Aber es gibt auch Blätter, die tendenziös berichten und bei bestimmten Themen eine Agenda verfolgen. Im Falle Springer ist dies nicht von der Hand zu weisen. Als muslimischer Journalist steht man auf der anderen Seite immer wieder vor dem Problem, dass man auf ein Thema fixiert wird. Einerseits freue ich mich über Aufträge, aber der Idealfall wäre, dass ich als Muslim nicht nur über Islamthemen etwas schreibe, sondern auch über Themen, die nichts direkt mit Islam oder einem „Migrationshintergrund“ zu tun haben.

Es gibt auch muslimische Medien, die aber erstaunlicherweise von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Seit 1995 gibt es etwa die „Islamische Zeitung“. Sie leistet Pionierarbeit, denn sie hat es geschafft, als einziges von Muslimen produziertes Medium jetzt mittlerweile 20 Jahre auf dem Medienmarkt zu bestehen. Trotz einer kleinen Redaktion, vielen ehrenamtlichen Autoren und minimalen Ressourcen leistet sie einen wichtigen Beitrag für den Islam in Deutschland. Lange vor dem 11. September hatte man sich klar zu Selbstmordattentaten und Extremismus positioniert, und zwar aus dem Islam heraus; also das, was jetzt überall lautstark gefordert wird, nämlich sich zu diesen extremistischen Ideologien klar und theologisch zu positionieren. Die Hauptmotivation für die IZ, so Chefredakteur Sulaiman Wilms, sei es gewesen, ein Medium an der Hand zu haben, um mit mehr Leuten über den Islam ins Gespräch zu kommen.

Von der Medienlandschaft unisono zu sagen, die Art und Weise wie der Islam dargestellt wird, sei eine Verschwörung oder münde in eine solche, findet Wilms absurd. „Warum? Weil Medien in Deutschland nicht so funktionieren. Nichtsdestotrotz hat die Islamberichterstattung im Augenblick negative Effekte für Muslime und für den gesellschaftlichen Frieden. Das hat aber andere Ursachen “, so Wilms.

Einerseits gäbe es in der Tat ideologische Netzwerke und Seilschaften wie die „Achse des Guten“. Ein anderer Aspekt spiele allerdings für die Islam-Berichterstattung eine viel wichtigere Rolle. „Was wir bei der Islamberichterstattung erleben, ist das serielle Darbringen der gleichen Fakten, die dadurch eine Vielfalt erzeugen, weil sie immer wieder rezipiert und wiedergegeben werden, und dann quasi eine Vielfalt an Vorgängen und so ein Bild erzeugen“, das der Realität nicht mehr wirklich entspreche. Das habe auch mit Produktionsbedingungen zu tun, unten denen heute Medien entstehen: Rückgang der Abonnentenzahl, Abschaffung von Rechercheuren und die damit verbundenen Begrenzungen. Es gibt ideologisch motivierte Aktivisten, welche sich der Medien bedienen.

Bei diesen Aktivisten handelt es sich anders als bei der „Achse des Guten“ nicht um hauptberufliche Journalisten, sondern um Akteure aus dem akademischen Bereich. Die Autoren Markus Mohr und Hartmut Rübner sprechen in ihrem gleichnamigen Buch von der „Sozialwissenschaft im Dienste der inneren Sicherheit“. Die beiden Politikwissenschaftler behandeln in ihrem Buch von 2010 diese fragwürdige Facette der akademischen Welt. Einrichtungen der politischen Bildung würden verstärkt wie eine Art Vorfeldorganisation des Verfassungsschutzes agieren. Als ein Beispiel nennen die beiden Autoren etwa das in Berlin aktive Zentrum für demokratische Kultur. Ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeit ist der „Islamismus“. Solchen Akteuren ginge es nicht um Vermittlung von Informationen, sondern um einen „privaten Verfassungsschutz“, so Wilms.

Der „private Verfassungsschutz“ unterscheide sich vom regulären, legitimen und auch verfassungsgemäßen Verfassungsschutz, denn dieser sei an Gesetze gebunden. Beim „privaten Verfassungsschutz“ werde nach geheimdienstlichen Methoden agiert, aber ohne irgendeinen Kontrollmechanismus. Das habe für die Betroffenen massive Folgen, denn diese privaten Verfassungsschützer seien in einer quasi idealistischen, quasi akademischen Position und würden als Autorität wahrgenommen. „Die Rezipienten dieser Informationen sowohl Journalisten, Institutionen sowie die Leser wissen gar nicht, wer diese Person eigentlich genau ist.“

Mit Muslimen wird operiert; unter anderem, weil sie die Definitionshoheit über die Grundbegriffe des Islamdiskurses verloren haben. Eine Eigendeutung eigener Kontexte ist fast unmöglich geworden. Klassisches Beispiel ist der „Islamismus“-Begriff, dessen Unbestimmtheit fatale Folgen hat. Im Islamdiskurs wird als „Islamist“der Moscheegänger bezeichnet, der Mitglied in einem Verband ist, der als „islamistisch“ eingestuft wird. Wird jeder Muslim, der sich veranlasst sieht, sich dank seiner Religion sozial zu engagieren oder Lösungsansätze für Probleme zu formulieren, damit zum „Islamisten“? Es ist genau diese Unschärfe, die den „Islamismus“ so erfolgreich hat werden lassen. Maßgeblich verantwortlich sind Verfassungsschutzberichte und die unkritische Übernahme des Begriffes durch Medien. Je unbestimmter, desto mehr sind Muslime davon betroffen und desto weniger können sie sich zur Wehr setzen.

Durch die Begriffe wird der Islam im Grunde genommen politisiert und gar nicht mehr als Religion wahrgenommen. Für viele Muslime ist das ein Enteignungsprozess: In der Wahrnehmung eines einfachen Muslims wird ihm die Religion weggenommen und politisiert. Auch die selten hinterfragte Forderung nach „Integration“ ist hier von Bedeutung. Die permanente Anwendung der „Integration“ auf den Islamdiskurs und die Vermischung dieser zwei vollkommen getrennten Themen erzeugt die Vorstellung, dass sich Muslime wegen ihrer Religionszugehörigkeit „integrieren“ müssten. Aber sollte dies auf deutsche Muslime wie mich zutreffen, die hier geboren und aufgewachsen sind und hier studiert haben?

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Der KRM scheint vor der Auflösung – ist das Teil eines Problems, oder eher die Lösung?

(iz). Vor jeder Reflexion oder Kritik am organisierten Islam in Deutschland, muss natürlich für alle beitragenden Akteure zunächst die Selbstkritik stehen. Salopp gesagt, „nobody is perfect“ und es ist für den neutralen Beobachter immer leichter zu kritisieren, als selbst aktiver Teil einer positiven Lösung zu sein. Natürlich ist es aber auch für uns Muslime legitim, sich an den inhaltlichen Debatten zu beteiligen und auch öffentlich auf diverse Widersprüche hinzuweisen. Kein Verband darf sich heute noch ernsthaft über dieses Phänomen beklagen, gerade auch, weil sich viele Verbandsvertreter selbst inzwischen gerne in den Medien positionieren. Eine ganz andere Frage ist es, ob eine echte innerislamische Debatte – im Vergleich zum kühlen Austausch von Pressemitteilungen – immer noch der bessere Weg wäre, um gemeinsam auf dem Teppich zu bleiben.

Wer sollte aber so einen konstruktiven Austausch organisieren? Beinahe ironisch klingt es heute, wenn man hier zunächst an einen „Koordinationsrat der Muslime“ denken sollte. Mit diesem Anspruch, eine Vertretung der Muslime zu sein – und großen Hoffnungen – ist der KRM 2007 an den Start gegangen. Der erste KRM-Sprecher, Ayyub Axel Köhler, erklärte damals selbstbewusst der „Mitteldeutschen Zeitung“: „Wir vertreten viel mehr Leute, als bei uns Mitglied sind.“ Der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, pries ausdrücklich die „Handlungsfähigkeit“, welche die Muslime mit der Gründung des KRM bewiesen hätten. Das war gestern. Die Macher zeichnen sich in diesen Tagen eher durch Wortkargheit gegenüber ihrer eigenen Basis aus und klären kaum öffentlich auf, was die Lage des Rates wirklich ist.

Heute, einige Jahre nach der vollmundigen Ankündigung einer neuen Einheit der Muslime, scheint der KRM nach internen Querelen jedenfalls kaum noch handlungsfähig. Vielleicht wird er künftig nur noch den jährlichen Ramadankalender und eine Pressemitteilung zum Eid-Fest veröffentlichen. Will man verstehen, warum das so ist, muss man sich zunächst über die Konstruktionsfehler des Über-Verbandes klar werden. Tatsächlich ist das Scheitern des zentralen Koordinierungsgremiums der Muslime auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners nicht wirklich überraschend. Dies hat weniger mit den involvierten Persönlichkeiten zu tun, sondern eher mit den oft unreflektierten Techniken der Macht, an die uns der politische Islam über die Jahre gewöhnt hat.

Es wäre tatsächlich ein Feld für sich, über Phänomene wie „islamischer“ Staat und „islamischer“ Verein und den aus diesen Formen entstehenden Habitus grundsätzlich nachzudenken. Hierher gehört auch die Historie der beteiligten Verbände; oft von Immigranten gegründet, die im deutschen Vereinsrecht zunächst die einzige mögliche Organisationsform für ihre muslimischen Anliegen vorfanden. Es ist keine Nebensächlichkeit, dass das eigentlich zentrale Anliegen politischer Formation im Islam, die lokale und unmittelbare Verteilung der Zakat, in dieser Rechtsform gerade nicht nach altem Vorbild umgesetzt wurde. Über Jahrhunderte war die Erhebung und gerechte Verteilung der Zakat die Legitimationsbasis politischer Führung überhaupt. Den organisierten Islam interessierte die korrekte, dezentrale Umsetzung dieser Säule des Dins weniger. Er strebte durch Mitgliedsbeiträge, Zakat-Zahlungen ins Ausland und durch die Mehrung der Vereinsmitglieder in erster Linie nach dem profanen Machtzuwachs, der mittels Vereinsrecht erreichbar schien. Das unterschwellige Machtkalkül der Verbände stellte aber auch die Idee einer echten Einheit der Muslime von Beginn an in Frage.

Da muslimische Vereine sich gerade ihrer inneren Struktur nach und nur über die eigene Machtsteigerung definieren, war die Idee einer politischen Einheit der Verbände von jeher fragil. Bisher war es für jede Organisationen unausgesprochen klar, dass eine Zeitung, die Schule oder die Moschee die „eigene“ sein müsse.

Die Idee einer offenen Infrastruktur dagegen – zum Beispiel Stiftungen, die den Muslimen an sich gewidmet ist und außerhalb der eigenen Machtstruktur verortet wird – blieb diesem Denken naturgemäß fremd. Im Organisationsmuster wurde die Lehre dem politischen Willen der Verbände untergeordnet und die „ökonomischen Akteure“ – zum Beispiel die erfolgreichen muslimischen Geschäftsleute – organisatorisch ausgegrenzt.

Es gab aber noch andere Probleme, die der Koordinationsrat von Beginn an nicht überwinden konnte. Die unterschiedlichen Mitgliederzahlen der Beteiligten hätten jeden demokratischen Prozess in dieser politischen Einheit ad absurdum geführt. Die Folge war ein lähmendes Vetorecht des größten beteiligten Verbandes, der DITIB. Eine starke, gar den Verbänden übergeordnete Führungsebene des Koordinationsrates war aber auf dieser Grundlage des Politischen von vornherein undenkbar; hätte sie doch von einer übergeordneten Ebene aus agieren können. Unter diesen Umständen durfte der KRM weder finanziell, noch personell wirklich erstarken.

Vielleicht wäre es immer noch möglich, etwas guten Willen vorausgesetzt, diese Konstruktionsprobleme durch eine kleinere, aber effektive Agenda zu überwinden. Natürlich könnte zum Beispiel eine würdige Repräsentanz der Muslime in Berlin wünschenswert sein. Nach wie vor gibt es einigen Koordinationsbedarf und nach wie vor gilt das Argument, dass ein Untergang des KRM letztlich auch die gesellschaftlichen Ansprüche der Muslime schwächen würde. Es ist schon jetzt absehbar, das kleinere Verbände leichter gegeneinander ausgespielt werden können. Tatsächlich scheint diese pragmatische Möglichkeit einer pro forma Einheit nun auch durch persönliche Konflikte erschwert.

Der Streit um den agilen, an sich aber relativ kleinen „Zentralrat“ der Muslime (ZMD) unter Führung seines Vorsitzenden, Aiman Mazyek, zeigt hier das aktuelle Dilemma. Seine Stärke sind weniger die großen Mitgliedszahlen, als das „symbolische Kapital“, das sich der Vorsitzende Mazyek über jahrelange Medienarbeit hart erarbeitet hat. Während die türkischen Verbände nur langsam und mühsam eine Sprache für den Diskurs fanden, hat Mazyek längst schon viele unterschiedliche Themenfelder auf öffentlicher Bühne besetzt.

Nicht immer ist der Entscheidungsprozess dabei transparent und oft wirkt es für Außenstehende, als würde hier sogar im Namen aller Muslime gesprochen. In der letzten Pressekonferenz des ZMD – aufgeschreckt durch Angriffe der Partnerverbände, die den Vorwurf lanciert hatten, der ZMD würde sich auf Kosten aller Muslime profilieren – stellte Mazyek dann klar, dass man keinen Anspruch auf Vertretungsmacht aller Muslime stelle und sich zunächst eben alleine entwickeln wolle. Und – etwas gönnerhaft – fügte die Vizechefin des ZMD Soykan hinzu, es könnten ja auch die anderen Verbände die öffentliche Bühne suchen.

So tritt Mazyek weiter auf, hält Festreden auf der Dresdner Opernbühne, diskutiert mit dem DFB, bekommt das „Seniorensiegel“ verliehen und ist so beinahe täglich in den Medien präsent. Spätestens seit seinem Ausflug mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, einem Duzfreund Mazyeks, in die Golfregion, begegnet dem umtriebigen ZMD-Chef dabei auch des Öfteren Neid und Missgunst. Sachlicher wirkt die Kritik, dass er – übrigens ähnlich wie SPD-Chef Gabriel – recht sprunghaft Positionen und Themen wechselt. So war bei seinem heftig kritisierten Vorstoß für ein Islamgesetz nach österreichischem Vorbild schnell nicht mehr klar, ob er denn ursprünglich dafür oder dagegen war. Allerdings wirkte sein Seitenhieb gegen die Fremdfinanzierung türkischer Imame dann schon wie das bewusste Durchtrennen der Freundschaftsbande mit den türkischen Partnern.

Es ist keine Frage, dass Aiman Mazyek immer wieder die muslimische Sache wortgewaltig vertritt. Sein Gespür für die Situation, zum Beispiel bei der Organisation der Berliner Mahnwache gegen den Terrorismus, die er mit Unterstützung großer Parteien perfekt inszenierte, rechtfertigt noch keine Ablehnung. Er hat auch Recht, wenn er postuliert, dass Muslime in Deutschland endlich ankommen müssen. Es wäre sogar logisch und für alle Muslime naheliegend, dass er mit seinen Talenten auch dem Koordinationsrat etwas mehr Leben verleiht. Nur, auch hier holt ihn eben die Logik der Machtansprüche wieder ein.

Die türkischen Verbände fürchten, dass ein agiler KRM-Sprecher oder selbstbewusster Generalsekretär inhaltliche Fakten schaffen könnte. Gleichzeitig hört man aus den Reihen der DITIB, dass man an einem zentralen Verband sowieso wenig Interesse habe; man befürchte eine Art kirchliche Struktur, die dem pluralen Charakter des Islam eben nicht entspreche. So sagt man wohl in diplomatischen Worten Adieu zu den Bemühungen, übergeordnete Koordination weiter gedanklich zuzulassen.

Im Ergebnis wird wohl jeder wieder für sich bleiben und ZMD-Boss Mazyek wird so künftig – wie bereits angekündigt – in erster Linie den Ausbau des Zentralrats vorantreiben. Im schlimmsten Fall wird er dabei als geschickter ­Stratege, und mit entsprechender Medienunterstützung, das Markenzeichen „liberal“ für seinen Verband beanspruchen und die antiquierte Dialektik „Konservative gegen Liberale“ für sich und seine Organisation nutzen. Die so überfällige wie mühsame Einebnung der des­truktiven Logik von „Liberalen gegen Konservative“ wäre damit „politisch“ wieder aufgehoben.

Was also tun? Vielleicht ist es de facto einfach ehrlicher, die plurale Struktur unserer Gemeinschaften zu akzeptieren. Zumindest das Ausloten gemeinsamer Interessen sollte dies natürlich nicht ausschließen. Es droht damit die weitere Verödung der innerislamischen Diskussionen, schon jetzt drehen sich die Verbände viel zu sehr um sich selbst. Andererseits, ist es vielleicht auch einfach an der Zeit, die gewohnte Bevormundung durch politische Vereine und den facettenreichen politischen Islam an sich in Frage zu stellen. Es erinnern sich viele schließlich an die zeitlose islamische Weisheit: „Wer die Macht für sich will, ist dafür am Wenigsten geeignet.“

Für nicht wenige Muslime sind es bereits heute die anderen, unverzichtbaren Elemente islamischen Zusammenlebens – wie Stiftungen, NGOs und unabhängigen Gemeinden –, die Querverbindungen zwischen den Muslimen herstellen, sich bewusst dem Machtspiel entziehen und wichtiger geworden sind, als der ewige Tanz um die Macht.

Eine anderer Trend kündigt sich ­ebenso an. Viele junge Muslime an der Basis können mit dem Zentralismus der 1980er Jahre wenig anfangen. Sie sind in Deutschland zu Hause und leben auch nicht mehr mit der Logik ethnischer Trennlinien. Sie wollen etwas vor Ort tun, keine Bürokratie aufbauen und nicht nur Befehlsempfänger sein. Als Organisationsmodell der Basis, die den höchsten gemeinsamen Nenner sucht, wie die Zakat, bietet sich von jeher das Umfeld lokaler Moscheegemeinden an. Den jungen Leuten geht es dort weniger um Repräsentation, als um die alltäglich gelebte und immer mögliche Erfahrung der Einheit im Rahmen überzeugender Wissensvermittlung. Wenn sie Parteiatmosphäre erleben wollen, dann gehen sie eben gleich in die Politik. Eine starke, „verjüngte“ Basis wird auch ohne Mühe die Verhältnisse umkehren; also von unten nach oben ermächtigen, statt von oben nach unten dominiert zu werden.

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Ersin Özcan: „Ich halte die Diskussionen für sehr unglücklich“

(iz). Die Debatten rund um das Islamgesetz in Österreich haben in den letzten Wochen auch Muslime und Politik in Deutschland beschäftigt. Forderungen nach einem ähnlichen Gesetz wurden auch hier laut. […]

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